2. Mai – Meine Oma, die Erfinderin

Meine Oma war eine berühmt-berüchtigte Erfinderin. Wenn ich bei ihr klingelte, rief sie durch die geschlossene Tür: „Holla, wer da?“

„Ich bin’s!“, rief ich sehr laut, um ihre Schwerhörigkeit zu übertönen. Schon drehte der Schlüssel im Schloss, die Tür wurde aufgerissen und Oma zerrte mich kurz die Straße hinauf und hinunter blickend hinein.

Hinter mir schlug sie die Tür laut zu und schloss wieder ab.

„Gut, dass Du da bist! Hast Du alles dabei?“

„Ja, ja“, beruhigte ich sie und ging voran in die Wohnküche, um meinen schweren Einkauf auf dem Tisch abzusetzen. Dann packte ich aus.

Je nachdem, was auf Omas Einkaufszettel gestanden hatte, konnten das neben den alltäglichen Haushaltswaren Drahtstifte und Häkelgarn sein oder Transistoren und Maschendraht. Denn Oma erfand ständig etwas.

Zum Beispiel die futterspendende Vogelscheuche oder einen automatischen Ostereiermalapparat. Und sie lebte in ständiger Angst, dass jemand ihre Erfindungen stehlen wollte. Nur mein unübersehbares Desinteresse an ihren Erfindungen erlaubte mir überhaupt noch Einlass in ihr Haus zu finden. Alle anderen Verwandten waren längst davongejagt und enterbt, weil sie sie als Spione und Diebe entlarvt hatte.

Wahrscheinlich hatten die anderen nur aus reiner Höflichkeit Interesse geheuchelt, das hatten sie jetzt davon. Erbschleicherei war sicher nicht der Grund. Oma war nämlich arm wie eine Kirchenmaus und die wöchentlichen Einkäufe bezahlte natürlich ich.

Irgendwann einmal wurde es immer schlimmer mit Oma. Sie hielt jetzt schon den Briefträger für einen Spion und hatte eine Fingerfalle in den Briefschlitz eingebaut. Daraufhin musste ich ihre Post zu mir umleiten lassen.

Aber dann kam der Tag, an dem sie auch mich nicht mehr hineinlassen wollte. Das ließ ich mir ein paar Tage gefallen. Schließlich flehte ich täglich vor ihrer Tür. Sie solle sich doch wenigstens die Lebensmittel hereinholen, die ich vor der Tür abstellte. Doch sie wollte nicht hören. Und irgendwann wusste ich mir nicht anders zu helfen und brach bei ihr ein.

Das war nicht so einfach, weil Oma überall Fallen aufgestellt hatte. Nur dass ich meine Oma und ihre Denkweise so gut kannte, bewahrte mich davor einen Fuß zu verlieren. Und so gelangte ich zu ihr, ohne mehr, als ein halbes Ohrläppchen einzubüßen.

Oma saß auf ihrem Lehnstuhl in der Küche und war derart geschwächt, dass sie noch nicht einmal mehr aufstehen konnte, um mich mit der Kohlenschippe in ihrer Hand anzugreifen. Sie bot einen schrecklichen Anblick und schimpfte wie ein Rohrspatz, als ich ihr die Kohlenschippe entwand und eine mitgebrachte Hühnerbrühe einflößte.

Das brachte sie so weit wieder zu sich, dass sie mich erkannte.

„Ach“, sagte sie da, „schön, dass Du mich besuchst. Hast Du das Kettenfett mitgebracht, um das ich Dich gebeten hatte?“

Nach dieser Episode gab mir Oma einen Schlüssel zu ihrem Haus und sie lebte bis zu ihrem friedlichen Tod noch ganze drei Jahre lang glücklich dort und erfand jeden Tag etwas Neues.