18. April – Wieder auf null

Wieder auf null. Am Morgen ist Steve immer besonders unleidlich. Morgenmuffel nennt man so etwas. Keiner sollte ihn ansprechen, bevor er nicht seinen ersten Kaffee intus hat. Besser ist es, die zweite Tasse Kaffee abzuwarten. Danach ist er wie ausgewechselt, den ganzen Tag über der netteste Mensch der Welt, zuvorkommend, charmant, hilfsbereit. Aber wundere Dich nicht, wenn er Dir morgens in die Hand beißt, falls Du ihm zu nahe kommst.

Leider blieb mir heute Morgen nichts anderes übrig. Steve hatte das Auto als letzter und als ich einstieg und starten wollte, sprang der Wagen nicht an, die Tankanzeige stand auf null.
Wir haben schon oft diskutiert. Der Wagen muss aufgetankt wieder zurückgegeben werden. Das geht doch nicht, dass ich Volltrottel jedes Mal Diesel aus dem Reservekanister in den Tank füllen muss, um zur nächsten Tankstelle zu kommen.

Aber dann der nächste Schock. Reservekanister auch leer. Den hatte ich gefüllt, ganz sicher, beim letzten Mal. Ich also rein und Steve angemault.

Er hatte noch nicht einmal die Kaffeemaschine eingeschaltet, wirkte sowieso sehr verquollen, die Augen ganz rot, die Haare standen in allen Richtungen ab. Das war sicherlich spät und auch feuchtfröhlich gestern.

Dabei hatten wir ebenfalls ausgemacht, dass nüchtern bleibt, wer den Wagen fährt. Immer und unter allen Umständen. Anscheinend hielt nur ich mich an die Abmachungen.
Wenn ich Recht überlegte, dann war auch ich es, der diese Abmachungen aufstellte. Die anderen schwiegen nur immer diskret und taten dann, was sie wollten, und verließen sich wie immer darauf, dass ich mein Auto weiter der Allgemeinheit zur Verfügung stellen würde.

Nun gut, ich sagte also: „Der Tank ist leer. Hättest Du gestern nicht noch tanken können?“
Da flippte Steve aus, warf die Kaffeemaschine an die Wand, der halbdurchgelaufene Kaffee spritzte an die Wände, die Splitter der Glaskanne flogen mir um die Ohren und die Plastikteile schüttele ich jetzt noch aus den Aufschlägen meiner Hose.
Wir haben uns dann darauf geeinigt, dass ich einen Coffee to go mitbringe, wenn ich den Diesel von der Tankstelle hole.

Und ich muss unbedingt daran denken, nach der Arbeit noch Wandfarbe zu besorgen, die Küchenwände brauchen sowieso einen neuen Anstrich.

Die neue Kaffeemaschine liegt auch schon im Kofferraum.

17. April – Hügelgrab

Silbernes Mondlicht lässt das Gras aufleuchten und die Erde in tiefer Schwärze verschwinden. Sebastian zieht an seiner Zigarette und schaut auf die Uhr. Claudia wollte längst hier am Hügelgrab sein. Ob sie verpennt hat?

Ungeduldig tritt er von einem Fuß auf den anderen. Das ist schon ganz schön unheimlich hier draußen. Sicherheitshalber ist Sebastian nur bis zum Feldrand gegangen und hat nicht den Hügel erklommen, wo sich das uralte Hünengrab wie ein steinerner Altar gegen den Nachthimmel abzeichnet.

Bewegte sich das was in der Schwärze?

Das bildete er sich bestimmt nur ein.

Wo blieb denn Claudia? Schließlich war das ihre Idee gewesen mit dem Treffpunkt und der Mutprobe.

Oder hatte sie das gar nicht Ernst gemeint und krümmte sich vor Lachen bei der Vorstellung, dass er sich wie ein Vollidiot mitten in der Nacht einen abfror.

Da ist doch ein Geräusch. Irgendwo knackt es.

Vielleicht ein Tier im Gebüsch.

Es gab ja keine Geister. War ja alles nur Einbildung. Schon merkwürdig wie die Sinne sich bei Dunkelheit verschärften.

Sebastian steckt sich noch eine Zigarette an. Plötzlich beginnt in der Ferne ein Hund zu bellen, dann noch einer und noch einer. Unter dem Hügelgrab bewegt sich was.

Er hätte doch eine Taschenlampe mitbringen sollen. Mist. Ob er mit dem Feuerzeug auch genug sehen konnte.

Vorsichtig nähert sich Sebastian dem Grab. Vielleicht ist das ein Tier oder er bildet sich das nur ein. Klar. Er ist es nicht gewohnt nachts draußen rumzulaufen.

Als Sebastian schon fast unter dem Dachstein steht, entzündet er sein Feuerzeug und blickt in eine schrecklich verzerrte Fratze. Er schreit laut auf. Das Feuerzeug erlischt und die Hunde hören schlagartig auf zu bellen.

Ein paar Minuten später irrlichtert ein Taschenlampenstrahl über das Feld und nähert sich langsam dem Hügelgrab. Es liegt verlassen da und wirft einen langen Schatten im Mondlicht.

„Sebastian, Sebastian!“, ruft Claudia gedämpft. Und leuchtet unter den großen Stein, umrundet das Hügelgrab, leuchtet ins Gebüsch. Kein Mensch da.

„Mist! Hab ihn verpasst.“

Unschlüssig steht sie noch einen Moment da, macht sich schließlich auf den Weg nach Hause.

16. April – Heilige Schildkröten

Heilige Schildkröten. „Sie kommen, sie kommen!“

Lange hatten wir den Besuch der Delegation aus Polynesien vorbereitet. Aber jetzt: Herbert und ich schauten uns an. Er wirkte ein bisschen enttäuscht; denn statt Eingeborenen mit bunten Trachten und aufwändigem Kopfschmuck entstiegen ganz normale Menschen in westlicher Kleidung dem Flugzeug.

Natürlich sie hatten eine andere Hautfarbe, für uns ungewohnte Gesichtszüge. Aber wir hatten doch etwas spektakulär Fremdartiges erwartet. Und nun kamen die wie wir daher. Kein Speer, keine Trommel, nichts Exotisches.

Die Begrüßung war dennoch herzlich von beiden Seiten. Vielleicht – so überlegte ich dann – waren die Polynesier auch enttäuscht, weil wir keine Trachten trugen, keinen Gamsbarthut und die Kinder keinen Schuhplattler aufführten, sondern ein einfaches Lied zum Willkommen anstimmten.

Ein kleines, blondes Mädchen überreichte dann einen Blumenstrauß. Der Übersetzer flüsterte dem Delegationsleiter etwas zu. Dann ging es ins Ministerium, später dann in die Universität und zur Besichtigung der Photovoltaikanlagen-Produktion.

Am Abend war ein großer Empfang geplant. Ich weiß nicht, wer das Menü zusammengestellt hatte. Vielleicht der Minister persönlich, wahrscheinlich eher seine Sekretärin. Jedenfalls nahm mich der Übersetzer beiseite, sobald er den Menüplan zufällig und glücklicherweise etwas früher zu Gesicht bekommen hatte.

Er zeigte auf die Suppe – Schildkrötensuppe – das äßen Polynesier nicht. Bei Ihnen sei das tabu. Unsere Gäste würden das als Beleidigung auffassen und sicherlich geschlossen den Tisch verlassen.

Ich hatte keine Zeit, lange zu überlegen. Herbert sollte diskret den Minister und seine Mitarbeiter informieren. Ich selbst sauste in die Küche.

Der Koch war beleidigt. Er hatte jetzt doch 60 Portionen Schildkrötensuppe vorbereitet. Das sei mir gleichgültig, die solle er einer anderen Gesellschaft auftischen und Ersatz beschaffen.

Wir einigten uns schließlich auf eine weiße Tomatensuppe. Aber die Harmonie des Menüs sei nun im Eimer. Doch darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen.

Die sorgfältig auf Büttenpapier gedruckten Menükarten mussten wir ebenfalls verschwinden lassen. Wir baten den Oberkellner, stattdessen die einzelnen Gänge anzusagen.

Vielleicht ging dieses Verhalten als kulturelle Eigenart der Deutschen durch.

Das Mahl ging glatt über die Bühne, danach wurde noch ein typischer Tanz der Ureinwohner aufgeführt. Ab da schien Herbert sichtlich erleichtert.

Mit Dank an Herrn Urban, der etwas Ähnliches erlebte und mir so die Grundidee zu dieser Geschichte lieferte.

15. April – Eduard, der Rüpel

„Wer ein Häkchen werden will, krümmt sich bei Zeiten“, rief Eduard und lachte.

Nur wollte Lisa sich nicht krümmen, erst Recht kein Häkchen sein und lustig fand sie das auch nicht. Nein sie heulte und wütete. Niemals würde sie tun, was Eduard von ihr verlangte. Nie, nie, nie.

Aber er hielt ihr mit seiner großen, starken Hand den Arm auf den Rücken gedreht und verlangte nochmal von ihr, den Regenwurm endlich runterzuschlucken, den er mit der anderen Hand vor ihr Gesicht baumeln ließ.

Lisa versuchte Eduard zu treten, aber er sah es kommen und wich ihr aus.

Dann brüllte sie wieder: „Laß mich los, Du Saubatz, Du Ekel. Der Teufel soll Dich holen!“
Aber es half alles nichts, immer wieder versuchte Eduard ihr den Regenwurm in den Mund zu stopfen und Lisa kniff wieder den Mund zusammen, damit es ihm nicht gelang. Und wand sich wieder und brüllte.

Dann endlich öffnete sich ein Fenster und die Maier aus dem dritten Stock schimpfte: „Was macht Ihr Drecksluder für einen Lärm, dass man sein eignes Wort nicht mehr versteht! Eurem Vater sag ich das, dann setzt’s was!“

Augenblicklich ließ Eduard Lisa los, der Regenwurm flog in hohem Bogen ins Gras und Lisa flitzte raus aus dem Hof auf die Straße und wischte sich dabei die Tränen aus den Augen.
Sollte der Papa Eduard doch zeigen, wie man sich krümmte. Das geschah ihm ganz recht.

14. April – Die Weberin

Eine Weberin saß an ihrem Webstuhl und webte einen Teppich. Das Muster webte sie so, wie sie es von ihrer Mutter gelernt hatte. Die hatte es wiederum von ihrer Mutter gelernt, die von ihrer und so fort. Seit langen Generationen webten die Frauen in diesem Tal Teppiche mit dem immer gleichen Muster.

Sie waren weit über die Lande berühmt für diese wunderbaren Teppiche und das von alter Zeit her überlieferte Muster. Aber plötzlich fiel der Frau das Weberschiffchen aus der Hand und sie konnte keinen einzigen Faden mehr durch die Kettfäden schießen. Sobald sie das Schiffchen wieder aufnehmen wollte, entglitt es sofort wieder ihrer Hand.

Da ging die Frau vor die Tür ihres Hauses und schaute sich um. Das Tal hatte sich verändert. Als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, hatte es in dem Tal satte Weiden und grüne Wiesen gegeben, es hatte Felder gelb von Korn und Obstbäume voll von Früchten gegeben.
Aber jetzt war aus dem mächtigen Fluss, der einst das Tal durchschnitten hatte, ein jämmerliches Rinnsal geworden. Die Bäume waren verdorrt, die Felder staubig und die Menschen gebeugt. Kein helles Kinderlachen war mehr zu hören. Auch die Vögel sangen nicht mehr.

Und da begriff die Frau plötzlich, dass es an der Zeit war, ein anderes Muster zu weben. Ein Muster, das diesem Tal sein Leben wieder zurückgab.

13. April – Schubladenbekanntschaften

Schubladenbekanntschaften. Eines Tages erblickten sich eine große Schwanenfeder, ein alter Radiergummi und eine Armbanduhr ohne Batterie in einer Schublade. Irgendjemand hatte etwas herausgeholt und nun stand die Schublade einen Spalt offen. So kam es, dass die Drei einander das erste Mal in Ruhe betrachten konnten, obwohl sie schon jahrelang einträchtig in der Schublade beieinandergelegen hatten.

„Wie geht’s denn so?“, eröffnete die Schwanenfeder das Gespräch und verärgerte damit augenblicklich die Uhr, die bekanntlich gar nicht mehr ging, sondern stehengeblieben war und nun nutzlos ihr Dasein im Dunkeln fristete.

Die Uhr sehnte sich unaufhörlich in die Zeit zurück als sie noch stolz am Arm getragen wurde und je nach Jahreszeit und Ärmellänge ihres Besitzers atemberaubende und manchmal auch sagenhaft eintönige Aussichten auf die Welt erhielt.

Dennoch besann sich die Uhr nach einem kurzen, empörten Schnauben eines Besseren und erzählte der Feder, dass sie leider nicht mehr ging und sie nur deshalb in dieser Schublade lag. Da schwieg die Feder ganz bestürzt. Sie hatte die Uhr nicht beleidigen wollen.

Schließlich erzählte sie, dass es ihr selbst längst nicht so schlimm ergangen sei; denn irgendwann trennten sich Federn eben von ihrem Träger und verrotteten dann irgendwo oder wurden von einem Spaziergänger aufgehoben und mit nach Hause genommen. Sie habe es hier doch recht gut getroffen.

Vielleicht würde sie eines Tages jemand aus der Schublade herausnehmen, aber erst einmal lag sie hier gemütlich, sicher und warm und konnte mit Genuss ihren Gedanken über Aerodynamik nachhängen. Da schaltete sich der Radiergummi ein. Ihm persönlich habe das Ruhen in der unergründlichen Schublade das Leben gerettet. Läge er nicht vergessen hier, dann wäre er längst aufgerieben und abgerubbelt.

In dem Moment schob jemand die Schublade wieder ganz zu und die Gegenstände verstummten.

12. April – Nachtweg

Frank steckte sein Wechselgeld ein und winkte den Jungs am Stammtisch noch freundlich zu, bevor er die Kneipe verließ und sich auf seinen Nachtweg nach Hause machte. Draußen war es empfindlich kalt und etwas neblig. Frank schlug seinen Mantelkragen hoch. Er hatte es nicht weit nach Hause, nur ungefähr 5 Minuten zu Fuß.

Doch als er ein paar Schritte gegangen war, wurde der Nebel immer dichter und zog in Schwaden über die Straße. Der Bürgersteig war ganz dunkel vor Feuchtigkeit und in den Wassertropfen sammelte sich das Licht der Laternen. Plötzlich Dunkelheit. Frank machte gerade einen Schritt vom Bürgersteig auf die Fahrbahn, als das Straßenlicht erlosch.

Einen kurzen Moment erwartete er, ins bodenlose zu versinken. Doch dann fand sein Fuß halt. Franks Herz schlug bis zum Hals, er fühlte sich plötzlich nüchtern und wach.

Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit und er tastete sich mehr durch die Erinnerung als durch seine Sehkraft geleitet nach Hause. Immer wieder umhüllten ihn Nebelschwaden wie graue Schatten und ließen ihn dann wieder frei in samtene Schwärze. Jedes Geräusch wurde zum Warnzeichen und ließ ihn zusammenzucken.

Als er in seine Straße einbog, ging die Außenbeleuchtung am Haus an der Ecke an. Bewegungsmelder. Auf halber Höhe flammte die nächste Lampe auf. Diesmal mit Sonnenenergie gespeiste Gartenfackeln. Nur sein Haus, ganz oben am Ende der Straße lag in nächtlicher Schwärze da.

Als er seine Haustür erreichte, stand er wieder im Dunkeln. Er drehte sich noch einmal um und schaute in die Dunkelheit. Es war ihm fast, als könne er alles sehen wie am helllichten Tage. Aber vielleicht ergänzte er die Schemen nur durch seine Erinnerung. Vielleicht verschwand die Welt gerade im Nebel, wurde verschlungen von der schwarzen Nacht. Und die Menschen in den Häusern mit ihr.

Frank tastete nach dem rauen Holz der Eingangstür in seinem Rücken. Ja, sie war noch da. Dann schaltete er das Flurlicht an und sein Haus erstrahlte wie eine rettende Oase in der Dunkelheit.

11. April – Ode an den Schmerz

Oh, Du pochender Schmerz, zwingst mich, innezuhalten, wo ich voranstürmen will.

Zwingst mich nieder, wo ich mich hoch auf in die Lüfte schwingen will.

Mahnst mich, halte ein, warte, nicht so schnell, achte auf Dich.

Aber wie soll ich auf mich achten, wo ich es doch so, so eilig habe.

10. April – Drama in Softeis

Als Carlotta sieben war, entdeckte sie Softeis. Das gab es am großen Eingang der Kaufhalle in der Innenstadt. Vor den großen Glastüren lagen Metallgitter, aus denen warme Luft strömte. Und als Mutter mit einer Bekannten dort an der Tür stand und sich nicht enden wollend unterhielt, bettelte Carlotta ihrer Mutter 50 Pfennig ab und rannte zum Softeisverkäufer.

„Einmal Erdbeer für 50 Pfennige“, sagte sie.

Der Verkäufer nahm zuerst das Geld entgegen, nahm eine Serviette und zog dann die Waffel aus dem Spender, fragte noch einmal: „Erdbeer“.

Carlotta nickte.

Dann sah sie zu, wie das Eis als dicke Sternwurst aus dem Apparat lief und die Waffel füllte. Oben machte der Eisverkäufer einen kleinen Zipfel.

Voller Aufregung nahm Carlotta ihr Eis entgegen. Dann führte sie es zum Mund, schloss die Augen, um sich ganz auf dieses allererste Softeis ihres Lebens zu konzentrieren, streckte schon die Zunge heraus.

In dem Augenblick traf Carlotta ein Stoß und das Eis flog in hohem Bogen auf die Steinplatten. Es bildete einen traurigen, rosa Flatschen, die Waffel war geborsten. Nur von hinten konnte Carlotta den schuldigen Rollerskater noch sehen, wie er weit mit den Ellbogen ausholend in der Menge verschwand.

Im ersten Moment wollte sich Carlotta auf die Knie werfen und das Eis vom Boden schlecken. Dann hörte sie die keifende Stimme ihrer Mutter.

„Was machst Du denn? Warum schmeißt Du das Eis runter? Musst Du immer so ungeschickt sein?“

„Aber Mama“, begann Carlotta zu protestieren und zeigte in Richtung des rasenden Rollerskaters, der längst nicht mehr zu sehen war.

„Du bist doch kein kleines Kind mehr!“, für die Mutter fort, „ich will Deine dummen Entschuldigungen gar nicht hören. Dir gebe ich kein Geld für Eis mehr, wenn Du so ungeschickt bist.“

„Aber…“, versuchte es Carlotta noch einmal. Doch die Mutter hörte ihr gar nicht zu, sondern schimpfte weiter und machte ihr Vorwürfe.

Dann nahm sie Carlotta unsanft an der Hand und zog sie mit sich fort nach Hause.
Das letzte was Carlotta sah, war eine rosafarbene Pfütze auf grauen Steinplatten.

9. April – Fantasiereise

Fantasiereise. Du sitzt auf deinem Baum im Garten, lässt die Beine baumeln und fährst im Einbaum über den Amazonas. Unter den Bäumen da am Ufer bewegt sich etwas und du weißt nicht genau, ob es die geheimnisvollen Eingeborenen sind, die vielleicht genau in diesem Moment mit Ihren Blasrohren auf dich zielen.

Also paddelst du schnell weiter und hoffst, dass sie dich nicht erwischen. Schließlich fährst du ans Ufer, um dir ein Lager für die Nacht zu suchen.

Da schwirrt ein Pfeil an deinem Ohr vorbei und fährt in einen Baumstamm.
Dann ruft Mama, du sollst reinkommen und dein Zimmer aufräumen.

„Ja, gleich!“, rufst du und schlägst seufzend dein Buch zu.

Noch den Finger zwischen den Seiten hangelst du dich vom Ast und schwörst das nächste Mal soweit nach oben zu klettern, dass Mama dich nicht mehr sehen kann.

8. April – Einfach verkauft

Das geht so natürlich nicht, ach du meine Güte! Immer diese Bauchentscheidungen und dann stehst du mit einem Hosenanzug in Schweinchenrosa da und irgendwie sah der doch im Laden noch gut aus. Aber hier, daheim, einfach scheußlich, einfach verkauft.

Die hatten dort bestimmt andere Beleuchtung, bestimmt viel Grünanteil von den Neonröhren. Sonst, bei klarem Verstand hättest du doch niemals dieses Schweinchenrosa.
Jetzt ist es zu spät den noch zurückzubringen.

Heute Abend ist schon der Empfang. After-Work-Party nennt sich sowas heute. So ein neumodischer Kram. Sich direkt nach der Arbeit besaufen.

Nun ja, andererseits, vielleicht ist das gar nicht so schlecht, wenn alle beschickert sind, dann sehen die auch das beknackte Schweinchenrosa nicht und es geht vielleicht als schickes lachsfarbenes Teil durch.

Außerdem – den alten schwarzen Anzug mit den Längsstreifen, den kannst du wirklich nicht noch einmal anziehen. Und in der Farb- und Stilberatung hat die freundliche Beraterin ja auch Rosa und Silber empfohlen, das würde zu deinem Teint passen.

Also schnell noch die silbergrau-glänzende Bluse gebügelt und dann rein in den geschmacklosen Hosenanzug.

Ist ja auch egal.

Jeder macht sich lächerlich, so gut er kann, warum nicht auch du.

Nach zähem Ringen stehst du also in unbequemen Schuhen an wackeligen Stehtischen und erntest zweifelhafte Komplimente.

„Wirklich einzigartig dieser Anzug, das kann ja nicht jede tragen“, dröhnt die Schmidt aus der ersten Etage.

Und die anderen Schranzen aus dem Büro kichern ein bisschen hinter vorgehaltener Hand.
Aber du zuckst nur mit den Schultern und trinkst noch einen Schluck.

7. April – Beziehungsweise

Beziehungsweise… „Guck mal da, eine Sternschnuppe!“, ruft Mia ganz aufgeregt.

Aber Jens grunzt nur kurz und schließt die Augen wieder.

„Jetzt guck doch mal! Wozu denn draußen schlafen, wenn du alles verpasst?“ Mia stößt Jens den Ellbogen in die Rippen.

„Menno, das tut doch weh! Spinnst du jetzt oder was?“

„Wir wollten doch extra eine romantische Nacht untem Sternenhimmel verbringen. Und jetzt pennst du einfach ein, findest du das romantisch?“

„Ich bin halt müde!“

„Nie kann man mit dir was zusammen machen! Immer verdirbst du einem den Spaß!“

„Aber ich mach doch gar nichts!“

„Ja, eben, du guckst nicht mal, wie schön der Sternenhimmel ist. Und mit mir zusammen etwas zu unternehmen, das interessiert dich auch kein Stück!“

„Ich bin doch hier.“

„Nur hier sein reicht nicht, du musst auch anwesend sein.“

„Das ist mir zu hoch.“

Jens packt seine Klamotten zusammen.

„Ich geh wieder rein!“

„Bitte, dann hau doch ab. Einen grunzenden Schnarcher kann ich hier sowieso nicht gebrauchen!“

Mia zieht die Decke unters Kinn und schaut trotzig in den Sternenhimmel, da fällt eine Sternschnuppe.

„Wenigstens auf dich ist Verlass“, murmelt sie.