16. April – Heilige Schildkröten

Heilige Schildkröten. „Sie kommen, sie kommen!“

Lange hatten wir den Besuch der Delegation aus Polynesien vorbereitet. Aber jetzt: Herbert und ich schauten uns an. Er wirkte ein bisschen enttäuscht; denn statt Eingeborenen mit bunten Trachten und aufwändigem Kopfschmuck entstiegen ganz normale Menschen in westlicher Kleidung dem Flugzeug.

Natürlich sie hatten eine andere Hautfarbe, für uns ungewohnte Gesichtszüge. Aber wir hatten doch etwas spektakulär Fremdartiges erwartet. Und nun kamen die wie wir daher. Kein Speer, keine Trommel, nichts Exotisches.

Die Begrüßung war dennoch herzlich von beiden Seiten. Vielleicht – so überlegte ich dann – waren die Polynesier auch enttäuscht, weil wir keine Trachten trugen, keinen Gamsbarthut und die Kinder keinen Schuhplattler aufführten, sondern ein einfaches Lied zum Willkommen anstimmten.

Ein kleines, blondes Mädchen überreichte dann einen Blumenstrauß. Der Übersetzer flüsterte dem Delegationsleiter etwas zu. Dann ging es ins Ministerium, später dann in die Universität und zur Besichtigung der Photovoltaikanlagen-Produktion.

Am Abend war ein großer Empfang geplant. Ich weiß nicht, wer das Menü zusammengestellt hatte. Vielleicht der Minister persönlich, wahrscheinlich eher seine Sekretärin. Jedenfalls nahm mich der Übersetzer beiseite, sobald er den Menüplan zufällig und glücklicherweise etwas früher zu Gesicht bekommen hatte.

Er zeigte auf die Suppe – Schildkrötensuppe – das äßen Polynesier nicht. Bei Ihnen sei das tabu. Unsere Gäste würden das als Beleidigung auffassen und sicherlich geschlossen den Tisch verlassen.

Ich hatte keine Zeit, lange zu überlegen. Herbert sollte diskret den Minister und seine Mitarbeiter informieren. Ich selbst sauste in die Küche.

Der Koch war beleidigt. Er hatte jetzt doch 60 Portionen Schildkrötensuppe vorbereitet. Das sei mir gleichgültig, die solle er einer anderen Gesellschaft auftischen und Ersatz beschaffen.

Wir einigten uns schließlich auf eine weiße Tomatensuppe. Aber die Harmonie des Menüs sei nun im Eimer. Doch darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen.

Die sorgfältig auf Büttenpapier gedruckten Menükarten mussten wir ebenfalls verschwinden lassen. Wir baten den Oberkellner, stattdessen die einzelnen Gänge anzusagen.

Vielleicht ging dieses Verhalten als kulturelle Eigenart der Deutschen durch.

Das Mahl ging glatt über die Bühne, danach wurde noch ein typischer Tanz der Ureinwohner aufgeführt. Ab da schien Herbert sichtlich erleichtert.

Mit Dank an Herrn Urban, der etwas Ähnliches erlebte und mir so die Grundidee zu dieser Geschichte lieferte.