29. Dezember – Mutig wie ein Mäuschen

Mutig wie ein Mäuschen. Seine Nasenspitze zittert. Wenn Sebastian Schnurrhaare hätte, würden auch die jetzt zittern. Unheimlich ist das heute in dem alten Haus von Oma. Mama ist in der Küche mit ihren Geschwistern, den Onkeln und Tanten, den Nachbarn von links und von rechts. Sie nehmen Mama in den Arm und helfen Kaffee kochen und Brote schmieren.

Die Oma liegt im Wohnzimmer, in ihrem Lieblingssessel. Sie atmet nicht mehr. Mama hat eine Decke über sie gelegt. Aber Omas Gesicht ist nicht zugedeckt und die Arme liegen auch über der Decke. Sebastian hat beobachtet, wie ein Nachbar nach dem anderen, ein Verwandter nach dem anderen hineingegangen ist zu ihr. Sie angeschaut hat, noch einmal ihre Hand berührt hat.

Manche haben nur schnell einen Blick geworfen und sind dann wieder zu den anderen gegangen. Sich in die Herde drängend. Leben atmen. Den Anblick des Todes vergessen. Sebastian hat sich nur bis an die Tür getraut. Die ganze Zeit haben sich die Leute an ihm vorbeigedrängt, Abschied genommen.

Heute ist Sonntag. Alle haben Zeit zu kommen. Sebastian staunt, wie viele Leute die Oma kannten. Wie ein Lauffeuer hat es sich im ganzen Dorf herumgesprochen. Wahrscheinlich hat jeder den Hubschrauber gehört, der heute Vormittag bei Omas Haus gelandet ist. Aber es war schon zu spät, die Notärzte sind wieder davongeflogen. Das hat Tante Lisa wieder und wieder jedem erzählt, Mamas Schwester. Sie hat Mama panisch angerufen, als Sebastian noch im Bett lag heute früh.

„Die Mutter stirbt, komm her, sofort!“, hat sie durchs Telefon gebrüllt, sofort wieder aufgelegt. Da gab es kein Überlegen, kein irgendwas. Mama hat Sebastian nur einen Mantel übergezogen und die Stiefel an. Dann sind sie mit dem Auto rübergebraust zu Oma. Das hat höchstens fünf Minuten gedauert, aber es war schon zu spät. Die Notärzte haben sich gerade verabschiedet. Tante Lisa sprang rum wie ein aufgescheuchtes Huhn und Mama wurde ganz blass.
Sebastian war an der Wohnzimmertür stehen geblieben. Die Nachbarn von gegenüber kamen durch die Terrassentür. Irgendwer rief den Arzt an, Mama rief die anderen Geschwister an. Die würden frühestens in einer Stunde hier sein. Immer mehr füllte sich der Raum. Im Garten standen die Leute, in der Küche begannen die Nachbarsfrauen mit Kaffeekochen. Sebastian hatte das Gefühl, dass all das nur so an ihm vorbeizog.

Irgendwann kamen Onkel Georg und seine Freundin und Tante Sabine. Auch der Arzt kam, untersuchte die Oma und redete mit den Erwachsenen. Sebastian stand einfach da. Ließ es geschehen, dass ihm ab und zu jemand übers Haar strich. Die Oma lag da in ihrem Lieblingssessel und atmete nicht mehr. Im Wohnzimmer war jetzt niemand mehr.

Sebastians Nasenspitze zitterte. Wenn er Schnurrhaare hätte, würden auch die jetzt zittern. Langsam und vorsichtig schiebt sich Sebastian vor. Vielleicht, wenn er Omas Hand ganz fest in seine nimmt. Wenn er ihr das Haar aus dem Gesicht streicht. Wenn er ihr in den Bauch pikst. Vielleicht wacht sie dann wieder auf.

Aber dann steht Sebastian vor der Oma. Ihr Gesicht ist ganz grau. Ihre Hand ist unnatürlich kalt. Alles Lebendige an ihr ist verschwunden. Die Oma schläft nicht. Die Oma ist wirklich, wirklich tot. Sebastians Nasenspitze zittert. Tränen rollen ihm die Wange hinab. Er kauert sich zu Omas Füßen vor den Sessel und weint und weint.

Plötzlich kommt Mama und nimmt ihn in den Arm. Dann weinen sie beide, bis ihre Trauer zu einem kleinen Rinnsal zusammengeschmolzen ist.

28. Dezember – Du träumst

Du träumst: Dunkle Baumschatten säumen den gepflasterten Weg. Ganz weit fort am Horizont scheint es hellrosa und dunkelblau auf, geht über in samtene Schwärze.

In deinem Rücken, über deinem Kopf glitzern die Sterne. Dein Atem gefriert. Kleine Wolken verlassen deinen Mund. Deine Füße lösen sich langsam vom Boden und du schwebst sanft dahin. Du lässt dich weit nach oben tragen, der Boden entfernt sich immer mehr und die Sterne kommen doch niemals näher.

Klein siehst du die Allee unter dir liegen, siehst nun, wohin sie dich geführt hätte, siehst ein Schloss, einen Park, eine dicke Mauer mit eisernen Toren und Straßen und Felder, eine Ortschaft mit einer großen Kirche in der Mitte. Einen großen Wald. Du könntest all das wie ein Tischtuch aufnehmen und zusammenfalten. Was ist darunter verborgen?

Erkennst du die Bäche und Flüsse, erkennst du die Wege und Straßen, siehst du die Rehe – so winzig – durch das Unterholz brechen. Du versuchst einen Sturzflug. Es kitzelt in deiner Magengrube. Der Boden rast auf dich zu, dann fängst du dich wieder. Steigst auf, weit hinauf. Lässt dich treiben. Und die Sterne kommen niemals näher.

27. Dezember – Max hat die Nase voll

„Oh ne, das ist doch wirklich schrecklich. Überall müffelt es hier nach…“, Max hob seine Nase noch einmal und zog vorsichtig die Luft ein. Stinkesocken. Widerlich. In dieser U-Bahnstation müffelte es doch tatsächlich nach Käsefüßen! Er musste raus hier.

Vielleicht ging ja doch ein Bus. Draußen an der schäbigen Winterluft erging es ihm aber nicht viel besser. Es stank nach Autoabgasen, nach uraltem Frittenfett, verschüttetem Bier und Hundekot. Max versuchte, ganz flach zu atmen, weil der Duft ihn zu peinigen begann. Wie konnte er nur so dumm sein und jetzt im Winter in die Großstadt kommen. Ah, na ja, natürlich Weihnachten mit der Familie und so.

Unauffällig nahm er ein Büschel getrocknete Minze aus seiner Tasche und roch daran. Es verschaffte ihm nur kurz Erleichterung. In den Bus konnte er nicht einsteigen. Der roch nach Schweiß und Erbrochenem, alles vermischt mit dem Geruch eines billigen Reinigungsmittels und Salmiak. Der Fahrer hatte ein Salamibrot gegessen und die Frau hinter ihm liebte Knoblauchbaguette.

Max wand sich wieder aus dem Bus und beschloss lieber zu Fuß zu gehen. Auf den nächsten 500 Metern war er einem wahren Bombardement aus größtenteils widerwärtigen Gerüchen ausgesetzt.

Dann gab er auf. Er kehrte um, stieg in den nächstbesten Zug in Richtung Heimat. In seinem Abteil roch es ganz wunderbar, so ein wenig nach Zimt und altem Leder. Noch besser wurde es, als er das Fenster öffnete, sobald die Stadt hinter ihm lag.

26. Dezember – Mit anderen Augen sehen

Hildegunde hatte so oft diesen dummen Spruch gehört, mit anderen Augen sehen. Meistens sehr tadelnd von ihrer Großmutter. „Das musst du mit anderen Augen sehen, Kind!“

Aber Hildegunde hatte das nie verstanden. Sie hatte nun einmal nur ihre eigenen Augen. Wie sollte sie durch die von einem anderen gucken? Sie sah ja noch nicht einmal klar, wenn sie nur die Brille ihrer Oma ausprobierte.

Was dachte Oma denn, was geschehen würde, wenn sie sich ihre Augen ausleihen würde? Wäre die Welt dann rosarot oder kanariengelb. Würde sie den Fritz von nebenan plötzlich ganz passabel finden und nicht schlotternd hässlich mit seinen Pickeln, dem leichten Sabber in den Mundwinkeln und dem feuchten Händedruck. Oder Jonny, fände sie den dann plötzlich gefährlich und unheimlich, nur weil er ein oder zwei Tätowierungen hatte – das waren die, die Oma gesehen hatte – und gerne Motorrad fuhr.

Dabei war Hildegunde (diesen blöden Namen hatte sie auch ihrer Großmutter zu verdanken) so stolz auf ihre Augen – katzengrün wie Jade mit kleinen orangefarbenen Einsprengseln. Und doch – dieser dumme Spruch ließ Hildegunde einfach nicht los. Wie sollte sie bloß mit anderen Augen sehen? Und was würde sie dann sehen? Mit Omas Augen, das konnte sie sich noch vorstellen, da wäre die Welt einerseits verschwommen und doch wohlgeordnet, feststehend, glasklar.

Oma musste nämlich gar nicht mehr erkennen, um sich eine Meinung zu bilden. Auch mit dem Zuhören haperte es bei ihr seit langem. Den Fernseher stellte sie immer so laut, dass Hildegunde in ihrem Zimmer aus der Hängematte fiel vor Schreck. Tja, also die Welt mit Omas Augen zu sehen, das probierte noch nicht einmal Oma selbst aus, dachte Hildegunde. Denn sie konnte ja nur noch schlecht sehen. Und andere Augen borgte sich Oma auch niemals.

Hildegundes Blickwinkel war der Oma ohnehin nicht geheuer, nein, sogar völlig suspekt. Dabei sah Oma völlig falsch. Der Fritz von nebenan war nämlich kein anständiger Junge, wie die Oma glaubte, nein, das war ein kleiner Fummler, Spanner, den Mädchen unter den Rock-Spicker. Bei dem schauderte es Hildegunde gewaltig. Von ihm erwartete sie viel eher, dass er heimlich irgendwelche Frauen entführte und im Keller mit der Axt zerstückelte. Aber Oma behauptete steif und fest, das sei garantiert Jonnys Hobby, so wie der aussähe.

Dabei war Jonny ein ganz sensibler Typ, mehr so ritterlich gegenüber Frauen und Mädchen. Deshalb bestand er auch darauf, Hildegunde nach der Disco heimzubringen, damit ihr nichts passierte. Tja, aber irgendwie kapierte Oma das nicht. Die zeterte eben lieber und sah nur die Vorstellungen in ihrem Kopf.

25. Dezember – Abendstern

In den eiskalten Raunächten strahlt der Abendstern hell und klar. Keine Wolke trübt den Blick. So nah sieht er aus neben all den anderen Sternen. Und ist es ja auch.

Aber doch nicht so nah, dass ich nur die Hand ausstrecken müsste, um ihn zu berühren, um ihn zu pflücken aus dem samtenen Schwarz. Könnte ich das, dann leuchtete er kühl und silbern in meiner Hand. Erhellte mein Herz und trüge mich sanft auf seinen Schwingen ins Reich der Träume.

24. Dezember – Heiligabend Dienst

An Heiligabend Dienst haben, ist das Letzte, was sich eine Polizistin wünscht. Viel lieber säßen meine Kollegen und ich daheim mit der Familie um den Weihnachtsbaum. Lieder singen, Geschenke auspacken, leckeres Essen, vielleicht vorher noch in die Christmette.
Auf jeden Fall behaglicher als den Abend auf der Wache in Bereitschaft oder sogar im Einsatz zu verbringen. Neben sechs weiteren Kollegen hat es diesmal auch Gunnar und mich erwischt. Uns beide zum ersten Mal. Ein Lichtblick ist, dass wir wenigstens Silvester frei haben werden.

Den ganzen Nachmittag blieb es bisher ruhig und wir freuen uns schon, dass wir vielleicht doch einfach mit den anderen auf der Wache feiern können. Aber Otto unkt, das sei nur die Ruhe vor dem Sturm.

Arne und Carlotta grinsen sich geheimnisvoll zu. Irgendetwas läuft hier, aber mir ist nicht klar was. Ich schaue ratlos zu Gunnar, aber der zuckt nur mit den Schultern. Kurz vor sechs kommt dann doch eine Meldung rein. Häusliche Gewalt in der Lindolsgasse. Gunnar und ich rücken aus.

„Ausgerechnet an Weihnachten“, sagt Gunnar, als ich den Wagen Richtung Lindolsgasse lenke.

„Tja, weißt ja, an Weihnachten wollen alle auf Harmonie machen, da kommen dann die verdeckten Aggressionen erst Recht raus.“

„Komisch, aber in der Lindolsgasse hatten wir noch nie nen Einsatz. Ist doch eine ruhige Gegend.“

„Werden sehen“, sage ich und biege in die Straße ein. Es ist wirklich ruhig hier. Lauter kleine Einfamilienhäuschen und das in Innenstadtnähe. Fast jedes Haus ist geschmückt. Rentierschlitten und Weihnachtssterne leuchten um die Wette. Das am meisten geschmückte Haus ist es. Ausgerechnet.

Gunnar und ich steigen aus und klingeln. Eine alte Frau macht auf. Eigentlich sieht das gar nicht nach häuslicher Gewalt aus. Ein älterer Herr erscheint und bittet uns herein. Es duftet nach Bratäpfeln.

„Kommen Sie nur, kommen Sie!“ Die Frau führt uns ins Wohnzimmer. Dort leuchtet ein Christbaum in wunderschönen Farben. Eine große Tafel ist festlich gedeckt. Gunnar und ich schauen uns um und dann ratlos an.

„Ich glaube die beiden sind neu“, sagt die Frau zu ihrem Mann.

„Mmh“, brummt er. Dann wendet er sich an uns. „Nehmen Sie nur Platz, nehmen Sie Platz“, scheucht er uns in Richtung Esstisch.

Unschlüssig treten wir von einem Bein auf das andere. Ich weiß selbst nicht, warum wir plötzlich so schüchtern sind.

„Das ist doch eine Schande, dass sie an Heiligabend arbeiten müssen. Nicht wahr?“, sagt der Alte.

Natürlich stimmen wir zu.

„Deshalb gibt es seit einigen Jahren bei uns immer einen ganz schlimmen Fall von häuslicher Gewalt. Weihnachtskoller, verstehen Sie! Ich glaube, Sie sollten unbedingt Verstärkung rufen.“

Plötzlich fällt bei mir der Groschen und ich rufe gehorsam die Kollegen zu Hilfe. Der Tisch biegt sich vor lauter Leckereien. Da brauchen wir tatsächlich Verstärkung. Ich frage mich nur, was wir morgen in unseren Bericht schreiben werden.

23. Dezember – Frau Jeter hat Wut

Eines Morgens wachte Frau Jeter auf und fühlte eine ungeheure Wut in sich. Einen Moment hielt sie inne und forschte, woher diese ungeheure Wut stammen könnte.

War es ihr geliebter Göttergatte, der sie so ungeheuer wütend machte? Frau Jeter rief sich ihren Ehemann ins Gedächtnis und das, was er so in den letzten Tagen, Wochen, Monaten getan oder auch nicht getan hatte. War da etwas dabei, das sie so ungeheuer wütend machte? Nein, das war es nicht.

Waren es ihre geliebten Kinder, die sie so ungeheuer wütend machten? Frau Jeter rief sich ihre Kinder ins Gedächtnis und das, was sie so in den letzten Tagen, Wochen, Monaten getan oder auch nicht getan hatten. War da etwas dabei, das sie so ungeheuer wütend machte? Nein, das war es auch nicht.

War es am Ende sie selbst, die sie so ungeheuer wütend machte? Frau Jeter rief sich selbst ins Gedächtnis und das, was sie so in den letzten Tagen, Wochen, Monaten getan oder auch nicht getan hatte. War da etwas dabei, das sie so ungeheuer wütend machte? Nein, das war es auch nicht.

Also stand Frau Jeter auf und packte in all ihrer großen Wut das Haus und warf es auf die andere Seite des Tals. Dann riss sie systematisch und sorgfältig die Bäume aus, erst die Bäume bei sich im Garten, dann die im Nahe gelegenen Wäldchen und schließlich folgte sie der Allee und zog und zerrte an den alten Platanen, bis sie auch diese alle ausgerissen hatte.

Frau Jeter war ein wenig außer Atem gekommen vor lauter Anstrengung. Sie hielt inne und horchte in sich hinein, ob diese ungeheure Wut vielleicht abgeklungen war. Aber sie wütete immer noch in ihrer Brust und so stapfte sie weiter und weiter und hinterließ eine Spur der Zerstörung auf ihrem Weg.

Schließlich kam sie am Abend an einen Baum, der war so riesig groß, dass sie ihn nicht ausreißen konnte. So sehr sie es auch versuchte. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah, dass der Baum bis in den Himmel reichte. Da ihre Wut aber immer noch kein bisschen kleiner war, gleichgültig wie sehr sie gegen den Baum wütete, beschloss Frau Jeter, in den Himmel zu klettern und dort an den Göttern ihre Wut auszulassen. Wer, wenn nicht die Götter, hatten ihr diese ungeheure Wut gesandt?

Als die Götter hörten, dass Frau Jeter sich auf den langen Weg zu ihnen in den Himmel hinauf machte, versteckten sie sich alle bis auf eine Göttin. Die Göttin Kali, die Göttin der Zerstörung. Kali lachte, als sie Frau Jeter erblickte, die endlich oben angekommen war. Und dabei hatte die Göttin einen grausamen Zug um den Mund und ihre Augen blitzten gefährlich. Aber Frau Jeter interessierte das gar nicht. Voller ungeheurer Wut stürzte sie sich auf Kali.

Nun tobte ein langer und heftiger Kampf. Die beiden Frauen warfen sich gegenseitig durch den ganzen Himmel, donnerten die Köpfe gegeneinander und rissen sich die Haare aus. Aber keine von beiden wollte weichen und keine von beiden ließ nach in ihrer ungeheuren Raserei und Wut. Schließlich gelang es Frau Jeter, die Göttin Kali in den Schwitzkasten zu nehmen. Kali lief knallrot an und japste nur noch. Nur noch ein kleines bisschen mehr Kraftaufwand und der starke Hals der Göttin wäre gebrochen.

Da fühlte Frau Jeter plötzlich, wie die ungeheure Wut in ihr ein klein wenig nachließ. Frau Jeter stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und gewährte Kali ein klein wenig mehr Spielraum, so dass die Göttin wieder zu Atem kam. Frau Jeters ungeheure Wut ließ noch ein wenig mehr nach. Und sie fand, dass sie eine Stimme hatte, und sagte zu der Göttin: „Wenn du friedlich bleibst, lass ich dich los.“ Kali stimmte durch ein mattes Kopfnicken zu. Frau Jeter gab Kali frei. Eine ganze Weile lag die Göttin immer noch zitternd und keuchend am Boden. Schließlich richtete sie sich auf.

„Noch niemals hat mich eine Sterbliche bezwungen“, stieß sie hervor. Frau Jeter zuckte nur mit den Achseln. „Aus diesem Grunde gewähre ich dir einen Wunsch!“, fuhr die Göttin fort, „meine Bedingung ist, dass du hier verschwindest und niemandem erzählst, dass du mich besiegt hast.“ Frau Jeter überlegte einen Augenblick. Dann nickte sie. Ihr Wunsch formte sich in ihrem Herzen und die Göttin begann froh zu lachen, als sie mit einer kleinen Handbewegung Frau Jeters Wunsch zur Erfüllung brachte.

Ohne Zögern brach Frau Jeter auf. Nur ein leises Kopfnicken reichte zum Abschied. Immer noch voller Energie kletterte sie den hohen Baum hinab bis auf die Erde. Dort kehrte sie den langen Weg zurück, den sie gekommen war. Aber überall, wo sie einen Baum ausgerissen hatte, pflanzte sie einen neuen. Und überall, wo sie eine Spur der Zerstörung hinterlassen hatte, hinterließ sie nun einen Pfad des Wachsens und Gedeihens.

Fast am Ende ihres Weges klaubte Frau Jeter ihr Haus von der falschen Talseite und warf es mit einer geschickten Bewegung so wieder auf seinen Platz, dass es plötzlich viel größer und schöner dort stand. Auch ihren Garten ließ sie neu erblühen und er war noch niemals so schön und lebendig gewesen.

Die ungeheure Wut verließ Frau Jeter seither niemals ganz. Sie hatte dank der Göttin Kali nur die Gabe erhalten, diese große und mächtige Energie zum Schaffen zu nutzen und nicht zum Zerstören.

22. Dezember – Die Tage werden wieder länger

Dem Himmel sei dank, die Tage werden wieder länger. Noch ein paar Wochen fiese Dunkelheit morgens und dann schon wieder nachmittags, aber die Sonne wird immer weiter und steiler über den Horizont steigen und bald, bald ist der Winter auch Geschichte und der Frühling beginnt.

Kommt euch wohl so vor, als könnte ich das kaum erwarten. Das stimmt leider auch. Diese graue, kalte, dunkle Jahreszeit überwinde ich nur mühsam. Je älter ich werde, umso schlimmer wird es. Vor allem, wenn so ein Schmuddelwetter herrscht. Nieselregen, rutschige Straßen, matschige Feldwege. Einfach grässlich. Klar, so ein schöner eiskalter, klirrender Winter mit massenhaft Schnee und Sonnenschein bei strahlend blauem Himmel ist nicht zu verachten.

Aber so ein Bilderbuchwetter gibt es eher selten. Der Frühling leuchtet aber auch bei Regenwetter. Wenn die Tropfen vom lindgrünen, frischen Grashalm perlen, die ganze Atmosphäre wie frischgewaschen leuchtet. Der erste warme Wind, der deine Haut streichelt, während sich die Sonne noch ein wenig rar macht, aber langsam ihre wärmenden Strahlen zu dir ausstreckt. Ach Frühling, komme bald!

21. Dezember – Geister

Geister sind total lästig. Es gibt natürlich keine. Ist ja klar. Ich bin ja nicht bekloppt und glaube an Geister. Aber ungemein lästig sind die trotzdem.

Heute Nacht zum Beispiel, da hat so ein lästiges Geisterexemplar andauernd an den Blättern meiner Orchidee gewackelt. Keine Ahnung worauf mich dieser Geist wieder aufmerksam machen wollte. Irgendetwas wollen die ja immer.

„Erzähl meiner Frau, wo ich die Goldbarren versteckt habe“ oder „Hau‘ meinem Bruder einen über den Schädel, ich kam nicht mehr dazu“.

Geister, also vor allem die Sorte, die sich immer noch hier so in unseren Gefilden herumtreibt, sind nämlich überhaupt kein bisschen geläutert oder so etwas in der Art, ganz im Gegenteil hängen die noch völlig an ihren alten menschlichen Gewohnheiten und Eigenarten. Deshalb reagiere ich überhaupt nicht mehr auf diese albernen Annäherungsversuche wie mit den Blättern meiner sehr empfindlichen Orchidee wedeln oder meine schönste Kaffeetasse vom Tisch schubsen. Ein einziges Mal hat mich so ein Geist überrumpelt. Es gibt natürlich keine, also nicht, dass ihr jetzt glaubt, es gäbe Geister. Ha, lachhaft.

Jedenfalls hat dieser fiese Geist doch tatsächlich meinen schlafenden Kater vom Kratzbaum geworfen. Das hat mich dann so derartig aufgeregt – und meinen armen Kater auch. Der stand mit gesträubtem Fell und aufgestellten Ohren in Angriffsstellung. Aber diese fiesen Geister kriegt ja auch eine Katze nicht. Ist ja klar, ist kein Schwanz dran. Deshalb verliert unser Kater ziemlich schnell das Interesse. Also, wo war ich, genau, das hat mich so fürchterlich aufgeregt, dass ich doch tatsächlich den Geist angesprochen habe. Der klagte mir daraufhin sein Leid.

Denkt jetzt nicht, dass so ein Geist wie jeder vernünftige Mensch um eine Tasse Tee bittet und sich mit dir an den Tisch setzt, um einfach ein bisschen zu plaudern. Nein. Viel schlimmer. Die hinterlassen unsichtbare Nachrichten auf dem Spiegel. Die sah ich dann erst, als ich mich schön in der Badewanne entspannte und der feuchte Dunst das Spiegelglas beschlug. Der blöde Geist hatte auch noch so eine Sauklaue.

Am Ende lief alles darauf hinaus, dass ich ihrem Mann – es war ein weiblicher Geist – sagen sollte, er solle nicht dauernd vergessen, die Blumen zu gießen. Warum solche dämlichen Geister dann bei mir vorbeikommen, anstatt direkt dem betreffenden Hinterbliebenen auf den Wecker zu gehen, ist mir wirklich völlig schleierhaft. Aber einer, der die Blumen nicht gießt, bemerkt die Anwesenheit vom Geist seiner Frau wahrscheinlich erst recht nicht.

20. Dezember – Unter Jasagern

Wer möchte sich schon gerne mit Jasagern umgeben? Na eben. Ich auch. Diese ewigen Neinsager, die Spielverderber, die Besserwisser, die gehen mir ganz schön auf den Wecker.
Wer sagt denn, dass ein Teppich nicht fliegen kann? Vielleicht hast du es nur noch nie probiert oder es war der Falsche. Okay, es ist ein blödes Beispiel. Aber kennst du nicht auch diese kleine Stimme so kurz hinter dem Jochbein, die beständig murmelt: „Das geht doch nicht. Nein, nein. Das kannst du dir gleich abschminken. Wer hätte von sowas schon gehört? Gänzlich unmöglich, ungehörig, unwahrscheinlich. Das tut MAN nicht. Was sollen die Leute sagen? Deine Eltern würden sich schämen. Das hat schon 1857 vor Canitoga nicht funktioniert.“ Und so weiter, und so fort.

Dabei gibt es sehr wohl eine Menge, was ich heute tun kann, aber vor zweiundzwanzig Jahren noch nicht. Alkohol trinken, Auto fahren, meine eigenen Entscheidungen treffen. Wenn ich will, kann ich mitten in der Nacht baden oder einfach meine Sachen packen und in den Urlaub fahren. Ich kann wirklich und unfassbar wahr, tun und lassen, was ich will. Natürlich im Rahmen der gültigen Gesetzgebung.

Ich kann ja sagen, wenn mir danach ist. Ich kann sogar nein sagen, auch das ist erlaubt. Toll oder? Ich bin natürlich für mein Tun selbst verantwortlich. Das ist manchmal etwas unangenehm, aber erleichtert letztendlich eine Menge. Denn ich muss nur mir selbst gegenüber Rechenschaft ablegen, die Meinung anderer Leute kann mir völlig herrlich schnurzpiepegal sein.

19. Dezember – Momente der Klarheit

Es gibt Momente im Leben, da liegt dein Weg ganz klar vor dir. Natürlich könntest du rechts oder links gehen. Du könntest umkehren, stehenbleiben, dich ins Unterholz schlagen.
Nur wirst du dann feststellen, dass du am Ende wieder genau dort landest, an diesem Punkt, an dieser Stelle, wo du einen wunderschönen Ausblick auf deinen Weg hast.

Vielleicht ist dieser Weg unbequem und steinig. Du kannst nicht deutlich erkennen, was da tatsächlich auf dem Weg und am Ende des Weges auf dich wartet. Du weißt nur genau, dass dies einfach dein Weg ist. Was dich dort erwartet, wirst du schon erleben müssen. Ganz einfach.

18. Dezember – Ohne Angst

Wer ohne Angst ist, werfe den ersten Stein. Es gibt sie diese Menschen, die durch die Dunkelheit laufen, unempfindlich für die Monster, die hinter jedem Busch lauern könnten. Sie wissen nicht, dass hinter Schranktüren und unter Betten, Ungeheuer auf sie warten. Aber selbst diese Menschen spüren einen kleinen Angstkitzel, wenn sie in einen tiefen, tiefen Abgrund sehen oder der Zahnarzt mit seinem Bohrer auf sie wartet.

Überhaupt, der Umgang mit der Angst. Die wohlgemeinten Schubser in den Rücken. Nun los, mach schon, hab keine Angst. Trau dich, zier dich nicht. Es wird schon alles gut gehen. In der Tat, es geht auch meistens gut. Wenn nicht, dann zieren ein paar Schrammen oder blaue Flecke deine Knie und Ellenbogen. Was ist so schlimm daran? Manchmal selbstverständlich bleiben nur Narben auf deiner Seele zurück. Kleine Knubbel, die dich daran erinnern, dass Angst manchmal auch berechtigt sein kann und es besser ist, bestimmten Menschen aus dem Wege zu gehen.

Angst verdrängen und leugnen funktioniert eine Zeit lang. Nur geschieht dann etwas Merkwürdiges, die staut sich auf, ballt sich zusammen und fängt dann an dir im Dunkel aufzulauern. Also will Angst durchlebt und überwunden werden, transformiert und aufgelöst in Wohlgefallen. Sowieso ist Angst hauptsächlich nützlich. Schließlich hilft sie uns, alles zu mobilisieren, um einer gefährlichen Situation zu entrinnen.

Was aber geschieht, wenn du einer gefährlichen Situation jahrelang ausgesetzt bist und nicht fliehen kannst. Äußerlich nicht fliehen kannst? Dann machst du dich bereit innerlich den Rückzug anzutreten. Irgendwo findest du eine Kammer, wo du das, was du für deinen Kern hältst, sicher verstaust. So sicher, dass du später, in besseren Tagen sehr schwer danach graben musst. Ganze Förderanlagen mögen nötig sein, um diesen wichtigen Kern zu finden. Aber siehe da, auch das hatte seinen Sinn. Aus dem kleinen bisschen Kohlenstoff ist ein Diamant geworden. Roh noch und ungeschliffen, aber bereit zu glitzern und zu funkeln.