14. August – Ganz in Eile

Ganz in Eile denke ich mir etwas aus, das ich erzählen könnte. Im Grunde ist es einfach. Aus fast allem und jedem lässt sich eine Geschichte machen.

Aber so in Eile wird diese einfache und unschuldige Tätigkeit plötzlich zu einem unbeweglichen Felsblock. So in Eile mal eben schnell kreativ sein, ist zwar möglich, ist sogar normal. Schöpfungskraft hat es schließlich immer eilig herauszusprudeln, sich zu manifestieren. Aber nur dann wenn sie keiner zwingt.

Zwang mag Schöpfungskraft gar nicht gerne. Manchmal lässt sie sich zwar quetschen und kommt dann als beleidigtes Rinnsal mit vorwurfsvollen Blick angekrochen. Aber ich kenne das so: Dann setzt sich die ganze Kreativität schmollend in die Ecke und sagt: „Ich habe aber keine Lust, jetzt interessante Werbetexte zu schreiben. Ich möchte lieber ein Nonsensgedicht schreiben oder Blumen pflücken und einen Kranz winden. Abgabetermine? Was ein dummer Kram. Ich komme schon, aber wenn ICH will, dräng mich nicht.“

Dann bleibt mir nichts übrig, als einfach zu tun, was mir Spaß macht. So ist das eben mit der Kunst. Tut mir auch nicht wirklich leid. Ich geh’ dann mal Blumen pflücken, bis später!

13. August – Das Restaurant im Park

Das Restaurant lag draußen im Park, auf halber Höhe an den Berghang geschmiegt. Jetzt wurde es schon früher dunkel. Und wenn manche Gäste bis lange nach der eigentlichen Öffnungszeit blieben, kam Corinna erst bei völliger Finsternis als Letzte aus dem alten Gebäude.

Schließlich musste sie noch aufräumen, das Geschirr in die Spülmaschine räumen, den Gastraum in Ordnung bringen, damit am nächsten Vormittag nur wenige Handgriffe nötig sein würden. Sie hatte mit den letzten Gästen noch gescherzt, dass niemand hier den Job machen wollte, weil es so einsam sei.

Die Frauen waren unterschiedlicher Meinung. Die einen sagten: „Hier kommt doch keiner her und tut einem etwas an. Dazu ist der Weg zu steil. Da macht sich doch keiner die Mühe.“ Die anderen hätten die Stelle wohl auch abgelehnt und wiegten die Köpfe mit skeptischen Minen hin und her. „Nein, sie würden sich nicht trauen, hier im Dunkeln allein zu bleiben“. Und Corinna lachte nur und strich das Trinkgeld ein. Was sollte ihr schon passieren?

Als sie schließlich das Licht ausschaltete und die Eingangstür hinter sich abschloß, da fegte kurz ein kühler Wind vom Wald her, der sie erschauern ließ. Und einen Augenblick verstand sie, dass Furcht nicht immer einen Grund braucht, sondern einfach in uns allen wohnt. Sich aus dunklem Gebüsch plötzlich Schatten der Angst auf einen stürzen können und das Herz ganz hoch im Hals schlagen lassen.

Sie holte tief Luft, lächelte sich selbst zu, lief leichtfüßig zum geparkten Auto und machte sich auf den Heimweg. Das Restaurant lag still und ruhig da, kein Mensch war zu sehen. Nur ein paar tanzende Waschbären versuchten, durch die Gitterstäbe an den Abfall zu gelangen.

12. August – Ein Hosenknopf

Es war einmal ein Hosenknopf, der war abgerissen und seither zu nichts mehr zu gebrauchen. Er sah immer noch gut aus, ganz toll sogar. Ein wunderschön gearbeitetes Emblem prangte auf ihm.

Aber wo er in der Hose gesessen hatte, war jetzt ein großes Loch. Er war nämlich genietet und nicht angenäht worden. Das sollte normalerweise ewig halten, aber in seinem Fall nicht. Er war einfach ritsch ratsch rausgerissen aus der Hose und dabei verloren gegangen.

Nun lag er im Gras und schaute in den Himmel über sich. Dort zogen Wolken entlang, Vögel flogen vorbei, Insekten schwirrten herum. In regelmäßigen Abständen wurde es dunkel, dann wieder hell. Manchmal war die Helligkeit von einem gleißenden, strahlenden Glanz. Dann war der Himmel ganz blau, fast schon durchsichtig, dass der Knopf meinte, er könne hindurchsehen, wenn er sich noch ein bisschen mehr anstrengte.

Dann wieder hingen graue Wolken am Himmel, vom durchsichtigen Blau war nichts mehr zu sehen. Manchmal fielen dann große Tropfen auf den Knopf hinab und plitschten auf sein Emblem. Und manchmal regnete es so stark, dass die Grashalme sich ganz schwer über ihn beugten und kleine Erdkrumen über ihn gespült wurden. Später fielen große, weiße Kristalle aus dem Himmel, die deckten den Knopf ganz zu und er konnte nichts mehr sehen. Er fühlte sich nun ganz beschützt und sicher. Das war fast so schön, wie den Wolken zuzusehen.

Nachdem der Knopf lange, lange Zeit so gelegen hatte, konnte er sich gar nicht mehr daran erinnern, dass er einmal an einer Hose festgenietet war. Er wusste gar nicht mehr, dass sein Gegenstück Knopfloch hieß. Und er konnte sich auch gar nicht mehr vorstellen, wie es sich angefühlt hatte in einer Metalltrommel herumgeschleudert zu werden. Ihm gefiel es sehr gut, wo er jetzt war und es kam ihm fast so vor, als wäre das immer schon so gewesen.

11. August – Eines Morgens

Eines Morgens wachte ich sehr früh auf, weil ich ein ungewohntes Geräusch vernommen hatte. Ein Klappern oder Schlagen. Sehr merkwürdig. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Es war noch dunkel. Ich hielt den Atem an und konzentrierte mich. Doch ich konnte einfach nicht feststellen, wo das Geräusch herkam.

Vielleicht vom Fenster her oder doch aus der linken Ecke, vielleicht von irgendwo außerhalb meines Schlafzimmers. Ich kam nicht dahinter, wie angestrengt ich auch lauschte. Das Geräusch klang irgendwie metallisch und je länger ich zuhörte, umso bekannter kam es mir vor. Aber ich kam nicht darauf.

Natürlich hätte ich jetzt das Licht einschalten können. Davon hielt mich etwas zurück. Ich weiß nicht was.

Ich ahnte nur, dass das Geräusch im grellen Lampenlicht sofort verstummen würde. Also wartete ich. Das rhythmische Geräusch schläferte mich wieder ein. So hätte ich fast verpasst, wie das erste Tageslicht langsam durch das Fenster kroch und graues Zwielicht in die Dunkelheit goß. Und da erkannte ich sie.

Völlig ruhig und dabei geschäftig, wie ich sie stets gesehen hatte, saß meine verstorbene Großmutter im Sessel am Fenster und strickte einen Pullover. Sie war berühmt für ihre wunderschönen Stricksachen. Auch dieser Pullover versprach ein Meisterwerk zu werden.

Ich traute mich kaum, zu atmen. Natürlich konnte nichts von dem, was ich hier erlebte wahr sein. Schließlich gab es keine Geister und schon gar keine, die in meinem Sessel Pullover strickten und aussahen wie meine Oma.
Trotzdem sah ich sie. Unzweifelhaft hatte ich die halbe Nacht das Klappern der Stricknadeln gehört und nun sah ich tatsächlich mit meinen eigenen Augen meine Großmutter dort im Sessel sitzen und stricken.

Meine Kleider, die ich dort immer hinlegte, hatte sie fein säuberlich auf einen Bügel an den Schrank gehängt. Vorsichtig blinzelte ich mit den Augen und erwartete, dass sie verschwinden würde. Aber nein, ungerührt strickte sie weiter an dem Pullover. Schließlich räusperte ich mich vorsichtig.

„Wird auch Zeit, dass du endlich aufwachst“, kam es aus Richtung des Sessels. Die Stricknadeln klapperten weiter.

„Mmh. Ja. Was machst du denn hier?“, fragte ich lahm und fügte schnell ein gestammeltes „Schön, dich zu sehen!“ hinzu.

„Dachte, ich komme besser mal vorbei. Bevor du dein Leben total verschwendest“, kam es streng von ihrem Platz neben dem Fenster.

„Was?“

Nun war ich wie vor den Kopf geschlagen. Wieso verschwenden? Und warum kam ausgerechnet meine Oma? Die hatte sich doch niemals in meine Lebensführung eingemischt. Ganz im Gegenteil war sie stets die Güte in Person, nachsichtig und liebevoll. Niemals hatte ich auch nur ein böses Wort von ihr gehört, solange sie noch gelebt hatte. Warum fing sie ausgerechnet jetzt mit dem Meckern an, als Geist oder Erscheinung oder Halluzination. Genau, es musste einfach ein Traum sein. Ich kniff mir fest in den Arm und brüllte: „Aua“. Vielleicht kann man im Traum doch Schmerz empfinden, dachte ich sofort.

Oma kicherte nur in ihrem Sessel. Ich setzte mich auf.

„Und deshalb“, sagte ich mit einem etwas gereizten Ton in der Stimme, „kommst du extra aus – keine Ahnung dem Totenreich oder wo auch immer ihr euch rumtreibt?“

„Genau, nur deshalb! Und das war wirklich nicht angenehm, den langen Weg habe ich nur für dich auf mich genommen. Also sei gefälligst dankbar. Ich habe mir das lange genug mit angesehen. Als Kind warst du so vielversprechend und jetzt verschwendest du all deine Talente aus reiner Feigheit. Ich dachte, wenn ich vorbeikomme, dann wird dich das aufrütteln. Die anderen Zeichen, die ich dir geschickt habe, hast du ja ständig missachtet.“

„Was für Zeichen?“

„Dummes Kind, das weißt du selbst ganz genau. Jedenfalls bin ich nun hier und sage es dir persönlich. Ändere endlich dein Leben, sonst ist es vorbei mit freundlichen Zeichen und es gibt kein zurück mehr.“

„Aber, aber…“, stotterte ich wieder.

„Ist nur ein freundlicher Rat von mir, mein Kind. Du kannst natürlich auch so weitermachen und solange wiederkommen, bis du es endlich kapierst. Aber glaube mir, das ist auch nicht viel besser. Also, ich habe gesagt, was ich wollte und muss jetzt aufbrechen.“

„Aber, ich…“

Ein Sonnenstrahl glitzerte über den Horizont, fiel durch mein Schlafzimmerfenster und Großmutter war verschwunden. Nur das Klappern der Stricknadeln hallte noch einen Moment nach.

16. August – Ein grünes Sofa

Es war einmal ein grünes Sofa, das stand auf einer Müllkippe herum. Eine Feder stach durch den Bezug, ein großer Riss klaffte im Rücken. Aber das Sofa war glücklich. Endlich konnte es gemütlich in der Sonne stehen, außer ein paar Krähen saß niemand mehr auf ihm.

Und wenn es regnete, sog es sich voll, um dann später in der Sonne wieder zu trocknen. Langsam, sehr langsam rottete es vor sich hin. Da kam eines Tages eine Rattenfamilie und schlüpfte durch den Riss im Rücken in die Polsterung des Sofas. Nagte ein bisschen hier und dort und richtete sich häuslich ein.

Da freute sich das Sofa noch mehr, denn es war nicht mehr allein und konnte immer den kleinen Rattenbabys beim Spielen zusehen und sich mit den Ratteneltern unterhalten. Natürlich wusste das Sofa, dass es irgendwann einmal völlig zernagt sein würde oder eine große Müllladung auf ihm landen konnte und dann war es mit dem schönen Lotterleben vorbei. Aber warum sollte es sich darum Sorgen machen. So genoss es einfach jeden Moment und lebte fröhlich und vergnügt bis ans Ende seiner Tage.

10. August – Der Leguan

Es war einmal ein Leguan, der lebte in einem wunderschönen Terrarium. Jeden Tag schaltete sich zur gleichen Zeit automatisch das Licht ein, damit der Leguan sich sonnen konnte. Wie durch Zauberhand erschienen genau im Moment, als er Hunger bekam, ein paar leckere Heuschrecken, die er behaglich verspeiste. Er fand ein Blätterdach, um sich in den Schatten zu setzen, er hatte Sand, um darauf herumzulaufen, er hatte Äste, über die er balancieren konnte und er hatte eine schöne kleine Wasserstelle, an der er sich laben konnte. Alles war wunderbar und in schönster Ordnung.

Nur eines erschien dem Leguan merkwürdig. Immer wenn er versuchte, einen langen Spaziergang zu machen, stieß er plötzlich an eine Barriere. Er kam nicht weiter, er verstand auch nicht genau, was sich hinter dieser Barriere befand. Es sah anders aus als in seiner Welt voller Sand. Er konnte sich aber keinen Reim darauf machen, was er dort sah. Die Barriere selbst war unsichtbar und undurchdringlich. Einmal war es ihm sogar gelungen, diese unsichtbare Barriere hinaufzuklettern. Aber dann wurde ihm das unheimlich. Woran hielt er sich denn bloß fest? Worauf lief er? Der Luft?

Also ließ er sich wieder zurück auf sicheren Boden gleiten und beschloss einfach nicht mehr an diese Barriere zu denken. Er ignorierte sie einfach. Schließlich hatte er festgestellt, dass die Heuschrecken, der Sand, das Wasser und die Äste und Blätter das auch taten. Sie ignorierten die Barriere und sie hatten keine Möglichkeit, durch sie hindurch zu kommen.

Zwar wunderte sich der Leguan ab und zu über Erscheinungen. Manchmal verschoben sich die Äste auf unerklärliche Weise. Auch die Heuschrecken erschienen ja seit eh und je wie von Geisterhand. Aber die Hauptsache war, dass sie nicht durch die Barriere kamen, wenn sie einmal bei ihm waren. Ab und zu nagte die Neugier an ihm. Aber der Leguan dachte dann sofort an das unangenehme Gefühl, auf nichts zu laufen. Es war besser, er hielte sich an das, was er verstehen konnte. Sicher ist sicher.

8. August – Kommunikation

„Was ist denn los?“

„Was?“

Olivia hebt den Kopf von ihrem Buch hoch und schaut verständnislos.

„Was mit dir los ist?“

„Nichts, warum?“

„Weil ich dir schon das dritte Mal eine Frage stelle und du mich überhaupt nicht hörst“.

„Mmmh“. Olivia richtet ihren Blick sehnsuchtsvoll auf das Buch in ihrer Hand. Sie hat den Zeigefinger zwischen die Seiten geklemmt.

„Was hast du denn gefragt?“

„Ich finde das ziemlich verletzend, wenn du mir so gar nicht zuhörst.“

Olivia seufzt. Sie reckt die Hand mit dem Buch in die Höhe.

„Ich lese gerade“, sagt sie.

„Trotzdem kannst du mir zuhören“.

„Du weißt genau, dass ich beim Lesen total versinke.“

„Kein Mensch kann so versinken. Du ignorierst mich mit Absicht“.

„Ich konzentriere mich nur auf mein Buch!“ Olivias Stimme klingt genervt.

„Du liebst mich nicht genug“.

„Was soll denn das jetzt?“

„Das verletzt mich eben“.

„Hör mal, ich habe nur in meinem Buch gelesen und dich einfach nicht gehört. Das hat überhaupt nichts mit dir zu tun.“

Olivia legt das Buch zur Seite.

„Und was hast du mich nun gefragt?“

„Wie dir das Buch gefällt?“

7. August – Eine kleine Nadel

Es war einmal eine kleine Nadel. Die hatte ihr Öhr verloren. Sie fühlte sich seither furchtbar unnütz und weinte sehr häufig.

Immer blieb sie im Nadelkissen. Nie mehr hielten sie sanfte Finger mit festem Griff. Nie mehr durfte sie durch Knopflöcher tauchen. Nie mehr sah sie die Welt im Fenster vorbeiblitzen, wenn sie durch Luft und Stoff hinauf- und hinabsauste. Manchmal kam sie kaum durch die dicken Stofflagen, bog sich fast bis zum Brechen, bis der Fingerhut sie mit metallener Entschlossenheit drängte. Aber schließlich schoss sie immer hindurch, folgte immer brav ihrer Aufgabe.

Und dann eines Tages war ihr das Öhr abhandengekommen. Einfach fort. Unwiederbringlich. Seither steckte sie nutzlos im Nadelkissen. Gerade so geduldet. Immerhin war sie nicht im Eimer beim Müll gelandet. Sehr traurig war die Nadel. Fühlte doch, dass sie spitz war wie eh und je. Es fehlte ihr nur das Öhr zum Glück.

6. August – Und der Sinn?

Du willst wissen, was der Sinn des Lebens ist? Ich sag es dir.

Eine Katze streicheln.

Deinen Liebsten küssen bei Mondenschein.

Erdbeeren mit Schlagsahne essen.

Einen angefahrenen Iltis wieder gesund pflegen.

Jemanden trösten, dessen Mutter gestorben ist.

Eine Geburt feiern.

Kindern erklären, warum der Himmel blau ist.

Niemals aufzuhören, warum zu fragen.

Wäsche waschen und Rasen pflegen.

Kirschen, Pflaumen, Äpfel vom Baum pflücken.

Staunen wie schön die Blumen am Feldrand blühen.

Jemandem zum Weinen bringen.

Einen anderen zum Lachen bringen.

Lernen, lernen, lernen.

Lieben, lieben, lieben.

Pflanzen, ernten, bauen, einreißen, große Sprünge machen, kleine Schritte trippeln, sich ausruhen und singen.

Und all die anderen tausend Gründe dafür, dass das Leben einen Sinn hat, schreibst du einfach selbst dazu.

Warum soll ich dir die ganze Arbeit abnehmen?

5. August – Wilhelm ist blockiert

„Himmelherrgottsakra! Kannst du mich nicht eine Minute in Ruhe lassen?“
„Ich wollte doch nur ganz kurz…“

„Raus, hier, raus, ich brauche meine Ruhe“.

Leise schließt Margarete die Tür und Wilhelm atmet auf.

So, jetzt kann es endlich losgehen. Der erste Satz. Kann ja so schwer nicht sein, ein Meisterwerk zu beginnen.

Zu seiner Rechten quillt zerknülltes Papier aus dem Korb. Ihm kommt es vor wie eine Million erste Sätze, aber – er überschlägt schnell, was dort am Boden und im Papierkorb liegt – es handelt sich wohl eher um knappe 45 missglückte Anfänge. Versuchsweise malt er noch ein weiteres Galgenmännchen auf das Stück Papier vor ihm auf dem Schreibtisch.

Wie macht Margarete das nur immer? Jeden Tag schreibt sie eine Geschichte oder ein paar Seiten an ihrem aktuellen Roman. Und er? Er schafft noch nicht einmal die ersten paar Worte oder Sätze, sofort ist alles Mist. Unfähig ist er. Sein Kugelschreiber gräbt sich tief ins Papier. Er malt dem Männchen eine weit herabbaumelnde Zunge. Sinnlos eigentlich noch weiter zu machen. Aber er hat es sich doch vorgenommen.

Endlich im Ruhestand wollte er seinen großen Roman schreiben. Im ersten Jahr hat er sich dann doch um den Garten kümmern müssen und im Heimatverein war so viel zu erledigen. Überhaupt, er musste sich erst einmal daran gewöhnen, ständig zu Hause zu sein. Aber jetzt, jetzt konnte er endlich beginnen. Am Computer wollte er nicht schreiben. Er war mehr für Papier und Stift. Da müssten die Sätze doch viel direkter aus der Hand aufs Papier fließen. Hatte er sich jedenfalls vorgestellt. Außerdem hasste er diese Höllenmaschinen. Seine E-Mails hatte er sich schließlich auch ausdrucken lassen, von seiner Sekretärin.

Apropos Sekretärin. Das wäre es vielleicht. Wenn er Frau Gruber hier hätte, dann könnte er seinen Roman diktieren. Moment mal, er kramt in der Schublade seines alten, dunklen Mahagonischreibtischs. Ja, da war es, das Diktiergerät. Das war doch die Lösung. Er würde einfach alles aufs Band sprechen und später ins Reine schreiben lassen. Er drückt auf den Aufnahmeknopf und legt los.

„Es war an einem dieser Sommertage, an denen es heiß und staubig nicht zu regnen beginnt. Katharina wischte sich den Schweiß von der Stirn und stöhnte als sie versuchte sich aufzurichten. Feldarbeit war ganz und gar nicht ihre…“.
Es klickt unvermittelt, das Band stoppt. Wilhelm fummelt an dem Apparat herum, aber er will sich nicht wieder einschalten lassen.

„Verdammt nochmal“, flucht er vor sich hin. Wahrscheinlich sind die Batterien leer.

Nun ja, das war gar nicht so schlecht. Vielleicht könnte er das einfach aufschreiben, was er da aufs Band gesprochen hatte. Aber, was war das nochmal? Irgendetwas mit Sommertag. Klar.

Er setzt sich hin und schreibt: „So ein heißer Sommertag. Es wollte einfach nicht regnen. Katharina schwitzte wie ein Stier.“

Wilhelm lässt den Stift sinken. Nein, das war doch gar nichts, völliger Blödsinn. Was er da aufs Band gesprochen hatte, war ihm besser vorgekommen. Er geht zur Tür, öffnet und ruft: „Marga!“

Keine Antwort.

„Marga, haben wir noch Batterien?“

„Was?“, schallt es aus der oberen Etage.

„Haben wir noch Batterien?“

„Welche denn?“

Wilhelm guckt verdutzt.

„Keine Ahnung!“

Margarete kommt die Stufen hinunter.

„Brauchst du Mignon-Batterien oder die kleinen, die AAA?“

Auf Wilhelms Gesicht steht ein großes Fragezeichen.

„So eine Batterie, wie in der Küchenuhr oder wie in der Fernbedienung vom Fernseher?“

„Öhm, ja, hab’ noch nicht nachgesehen.“

„Batterien liegen jedenfalls im Werkzeugschrank.“

Margarete lächelt ihn freundlich an.

„Brauchst du noch was?“

Wilhelm holt tief Luft.

„Ach, nein, mein Schatz, dank’ dir“.

Er lässt die Schultern hängen und verschwindet wieder in seinem Arbeitszimmer. Er kapiert einfach nicht, wie Marga das macht mit dem Schreiben. Und er schafft noch nicht einmal die ersten paar Sätze. Einen kleinen Augenblick ist er versucht, die Tür wieder aufzumachen, seine Hand liegt noch auf der Türklinke, und Margarete einfach zu fragen. Aber dann setzt er sich doch lieber an den Schreibtisch, versucht vergeblich die Abdeckung vom Batteriefach zu öffnen und flucht leise vor sich hin.

4. August – Gut genug

„Schatzi, es gibt Cocktails!“, ruft Lena Helmut zu. Sie selbst liegt im Schatten und schlürft schon an ihrem alkoholfreien Drink. Hecke schneiden, Rasen mähen und Holz hacken, sind laut Helmut Männerarbeit. Lena will das auch gar nicht erledigen. Sie hat einen anstrengenden Job, bringt das Haupteinkommen nach Hause und kümmert sich sonst nur um den Haushalt.

Nun ja, in Wirklichkeit heißt das, sie bezahlt die Putzfrau und bringt die Kleidung regelmäßig in Wäscherei und Reinigung. Das einzige, was sie wirklich gut und gerne macht, ist Kochen. Auf Hausarbeit hat Lena sonst keine Lust.

Im Augenblick hat sie frei und will mit ihrem Mann den schönen Tag genießen. Aber Helmut grunzt nur als Antwort auf ihren Zuruf und schneidet weiter an der Hecke herum. Er macht das nicht besonders gekonnt. Vielleicht sollte sie doch lieber einen Gärtner beauftragen. Ist doch Blödsinn sich mit so einem Zeug abzuplagen, das keinen Spaß macht. Aber Helmut ist da immer so eigen. Er meint, er müsse unbedingt den Garten übernehmen, um seinen Teil beizutragen.

„So ein Quatsch“, denkt Lena. All diese merkwürdigen Vorurteile und vorgefassten Meinungen. Als wäre Helmut ein schlechterer Mensch, weil er ein paar hundert Euro weniger im Monat nach Hause bringt. Oder als wäre es notwendig, dass eine Frau sich möglichst klein und dumm stellt, damit ein Mann sich besser fühlt. Was ist das überhaupt für eine Vorstellung immer auf der Erniedrigung eines anderen seine Stärke aufzubauen. Als wäre nicht jeder Mensch genau richtig so, wie er ist.

Lena schließt die Augen und versucht sich eine Welt vorzustellen, in der jeder von sich und anderen glaubt gut genug zu sein. Aber es gelingt ihr nicht wirklich. Zu sehr ist sie selbst daran gewöhnt, an sich und den anderen herumzumeckern.
„Schließlich kann Helmut die Hecke so krumm schneiden wie er will und später seinen Cocktail trinken“, denkt sie. „Wenn es ihm wichtig ist, soll er das doch tun.“

Lena nimmt noch einen Schluck und fühlt sich schon viel besser.

3. August – Die ganze Wahrheit über Frau Weber

Frau Weber war eine sehr, sehr ordentliche Person. Bei ihr in der Wohnung war es stets aufgeräumt. Jeden Tag wischte sie Staub und putzte auch das Badezimmer und die Küche täglich. Die übrigen Räume kamen mindestens einmal die Woche dran. Niemand durfte die Wohnung mit Straßenschuhen betreten, für jeden standen Filzpantoffeln bereit. Das Parkett musste geschont werden. Das sah auch jeder ein.

Nicht, dass Frau Weber sehr viel Besuch bekommen hätte. Es waren eher Staubsaugervertreter und Lexikon-Verkäufer, die Frau Weber aufsuchten. Und obwohl sie ihnen niemals etwas abkaufte, bewirtete sie die Herren stets mit einem starken Bohnenkaffee und einem Obsttörtchen oder selbstgebackenen Keksen, je nach Jahreszeit. Vielleicht war es also nur dieses Gefühl, freundlich willkommen geheißen zu werden, dass die Vertreter immer wieder zu Frau Weber lockte.

Nur manchmal, da hatte Frau Weber so ein unangenehmes Gefühl. Da begann es sie irgendwie zu stören, diese saubere Wohnung, diese frisch gewischten Böden, diese Leere in ihrem Leben. Da packte sie dann ihren Koffer und fuhr in die große Stadt. Dort stieg sie in einer kleinen Pension ab, setzte sich dann in der Fußgängerzone in ein Straßencafé und schaute den Leuten zu.

Sie beobachtete, wie sie ihre Fahrscheine und Einkaufszettel wegwarfen, sie schaute, wie sie ihr Eis verloren oder den Rest ihrer Pommes mit Ketchup achtlos auf die Straße warfen, und sie sah, wie Kaugummis zu Unmengen auf den Steinplatten klebten. Auch die Leute waren in der Regel schmuddelig. Natürlich nicht alle.

Aber Frau Weber sah vor allem die Punks und Penner, die nach einem Euro fragten, die schwitzend von der Arbeit nach Hause eilenden Werktätigen oder die überforderten, jungen Mütter mit ausgelatschten Schuhen und strähnigen Haaren. Die Gesichter der Kinder meistens verschmiert mit irgendeinem undefinierbaren ekelhaften Brei.

Der Bedienung gegenüber musste sie leider immer die Qualität des Kaffees und den schlecht gespülten Zustand von Tassen und Besteck bemängeln. Auch die Pension war niemals zufriedenstellend.

Und noch am selben Abend checkte sie aus und fuhr schaudernd und mit dem Gefühl nach Hause, der schrecklichen, widerlichen Unordnung noch ein einziges Mal entkommen zu sein.