11. Februar – Morgens

Morgens, wenn die Sonne langsam ihre Rosenfinger über den Horizont streckt, der kühle Tau sich über alles legt und die Natur sich langsam wieder färbt, der Rasen wieder grünt, das Stroh gelb glänzt und die Feldwege bräunlich stauben.

Dann herrscht einen kurzen Augenblick eine herzöffnende Stille. Dieser eine Moment, wenn die ganze Natur Atem holt, bevor sie pfeift und singt und zirpt und summt.

Wunderbare, heilige Stille.

10. Februar – Welt aus den Angeln

Es war wie jede Nacht in letzter Zeit. Die Welt hob sich aus den Angeln. Es blieb ihr nur eines, sie musste fliehen. Sie rannte und rannte durch endlos scheinende, dunkle Gänge. Aber sie kam kaum voran, es fühlte sich an, als müsse sie durch eine zähe Masse waten. Sie schaute auf ihre Füße hinunter und sah nur gähnend schwarze Leere und dann fiel sie rückwärts und fiel und fiel.

Sie wusste, irgendwann würde sie aufprallen. Sie würde entzweibrechen, ihr Rückgrat würde in tausend Stücke zerspringen, ihr Körper würde aufplatzen wie eine überreife Tomate. Sie hasste dieses Gefühl. Sie versuchte aufzuwachen, strengte sich an. Sie rief sich selbst zu: „Wach auf, wach endlich auf.“

Sie öffnete die Augen. Zum Glück, sie war aufgewacht. Dann sah sie sich um. Aber warum lag sie nicht im Bett? Sie fiel weiter. Der Aufprall am Boden traf sie hart, ihr Rückgrat zersprang in tausend Stücke. Die Knochen stoben wie kleine leuchtende Sternschnuppen in alle Richtungen davon. Ihr Körper zerplatzte wie eine überreife Tomate, die aus Unachtsamkeit vom Küchentisch gekullert ist. Jetzt erst erwachte sie und lag schwer atmend mit klopfendem Herzen in ihrem Bett. Angst schüttelten sie und Entsetzen.

Es dauerte eine Weile, bis sie sich soweit beruhigt hatte, dass sie aus dem Bett krabbeln konnte. Ach ja, Kopfkissen nicht vergessen. Sie klemmte sich ihr Kopfkissen unter den Arm, öffnete die Tür ihres Zimmers, schlich den langen dunklen Flur entlang, machte die Schlafzimmertür auf, schlüpfte hinein.

„Mama“ Sie zupfte an der Bettdecke. Die Mutter drehte sich im Schlaf herum und knurrte.
„Ich hab’ schlecht geträumt!“ Die Mutter hob die Bettdecke und rutschte ein Stück zur Bettmitte.

„Kopfkissen dabei?“, murmelte sie.

Das Mädchen legte ihr Kopfkissen neben das der Mutter, kroch unter die Bettdecke und schlief sofort ein.

9. Februar – Ode an den Schlaf

Süßer Schlaf, halte mich in Deinen Armen, lass mich träumen und weit fortfliegen in andere Gefilde, lass mich Abenteuer erleben, lass mich die Welt retten, lass mich die Natur umarmen, lass mich die Jenseitigen treffen.

Ach lieber Schlaf, lass mich ruhen und vergessen, was des Tages Mühsal war. Erfrische mich und gebe mir Kraft und Munterkeit für all die klare Wachheit des Tages.

8. Februar – Oskar

Eines Sonntagmorgens saß Oskar in seiner Werkstatt, die er sich im Gartenhaus eingerichtet hatte, und schnitzte an einem Räuchermännchen. Er hatte eine lange Reihe von fertigen Räuchermännchen auf dem Regal stehen. Alle waren sorgfältig gearbeitet, liebevoll bemalt und völlig unbenutzt.

Oskar mochte es nicht, dass die Männchen rauchten. Er selbst hatte allerdings ständig eine Pfeife in seinem Mund, die lustig vor sich hinqualmte. Plötzlich stand sein Nachbar von gegenüber in der Tür.

„Moin Oskar!“

„Moin, Herbert!“

„Was macht die Kunst?“

Oskar grunzte nur als Antwort.

„Du“, druckste Herbert herum, „sach mal, könntest du mir nicht so ein Räuchermännchen verkaufen. Brauche ein Geschenk für meine Berta. Hab ihren Geburtstag vergessen.“

Oskar schaute kurz zu seinen übervollen Regalen hoch.

„Nein, keins mehr übrig.“

„Du hast doch die ganzen Regale voll, eines wirst du doch entbehren können!“, rief Herbert.

Oskar zog an seiner Pfeife.

„Nein.“

Er schüttelte den Kopf und schnitzte weiter.

„Was soll ich denn machen, Berta bringt mich um, wenn ich ihr kein Geschenk auf den Frühstücksteller lege.“

„Hättste halt gestern was besorgt“, erwidert Oskar.

„Ich hab’s vergessen. Das kann doch vorkommen. Und auf eins von deinen Männchen ist Berta doch schon lange scharf. Wäre doch eine Ehre, wenn du für sie eines rausrückst.“

„Geht nicht, sind abgezählt“, knurrte Oskar. „Und jetzt raus hier.“

„Sei doch nicht so.“

Herbert machte vorsichtshalber einen Schritt zur Tür.

„Unter Nachbarn muss man sich doch mal aushelfen.“

„Nein! Raus jetzt!“

Oskar zeigte mit seinem Schnitzeisen gebieterisch auf die Tür.

Also trollte Herbert sich.

„Du musst dir auch nicht mehr meine Heckenschere borgen, Nachbar!“, brüllte ihm Oskar hinterher. „Und wehe es fehlt nachher eins von den Männchen. Weiß dann ja, wo der Dieb hockt, direkt gegenüber!“

Die eiligen Schritte von Herbert auf dem Kiesweg zum Gartentor verklangen. Es war still. Nur eine Amsel tirilierte vom Apfelbaum. Oskar zog an seiner Pfeife und gab dem Arm des Männchens in seiner Hand Kontur.

7. Februar – Mein Traum

Mein Traum. Eines Nachts träumte mir, dass die Welt leer sei von allen Menschen und Tieren, leer von allen Pflanzen und Mineralien, leer von Wasser und Luft, leer von Erde und Himmel. Die Welt ward ein einziger Klang, ein Schwingen und Säuseln, ein Beben und Räuspern. Ich verwandelte mich in ein Ohr, um zu hören, einen Klang, um mitzuschwingen, eine Stimme, um mitzusingen. Alles war eins.

Dann erwachte ich und die Welt zerfiel in Menschen und Tiere, in Pflanzen und Mineralien, in Wasser und Luft, in Erde und Himmel, in ich und du. Den Klang konnte ich nicht mehr hören.

Nur manchmal, wenn ich besonders still bin, dann schwingt er in meinem Herzen nach.

6. Februar – Unterm Dach

Ein Strauß Rosen hängt kopfüber aufgeknüpft unterm Dach am Firstbalken und trocknet langsam vor sich hin. Aufgewirbelter Staub glitzert in den letzten Strahlen der Abendsonne, die durch das Erkerfenster hereindringen. Die Katze blinzelt schläfrig. Plötzlich richtet sie ihre Ohren spitz auf, als höre sie ein Geräusch.

Aufgeregt dreht sie die Ohren hin und her, nun hellwach und sprungbereit. Unvermittelt macht die Katze einen großen Satz über die Kommode, saust wie von der Tarantel gestochen durch die halboffene Tür und schlittert die Treppenstufen hinab in die erste Etage.

Dort landet sie elegant auf dem Teppich und putzt sich die Pfote, als wäre nichts geschehen. Oben in der Mansarde wiegt sich der Rosenstrauß leicht in der Abendsonne. Der Raum liegt stumm und leer.

5. Februar – Kaffeeklatsch

„Sag doch mal“, ruft Gerd aus der Küche, „wo ist denn bloß das Brotmesser hingekommen?“ Anneliese sitzt gerade mit ihren Freundinnen beim Kaffeeklatsch. Der Kuchen ist fast schon aufgegessen, etwas Teegebäck liegt noch traurig in der Schale. Aber die Unterhaltung der Damen begann gerade erst interessant zu werden.

„Guck mal in der Schublade“, ruft Anneliese, „wo es immer ist.“
Sie lächelt ihren Freundinnen zu und versucht, den Faden der Unterhaltung wieder aufzunehmen.

„Und die Butter?“, brüllt Gerd aus der Küche.

„Entschuldigt mich einen Augenblick“, sagt Anneliese, „Gerd findet sich nicht zurecht.“

Die Freundinnen schenken sich wortlos Kaffee nach, eine greift nach einem Gebäckstück.

Ich stelle meinem Mann schon immer alles fürs Abendbrot zurecht, wenn Ihr bei mir zu Gast seid“, sagt Käthchen.

„Meiner ist auch so unselbständig“, pflichtet Doris bei. „Das ist dann besser, wenn man vorher schon alles fertig macht. Kannst Du Anneliese ja auch mal vorschlagen.“

„Noch schlimmer als ein Mann, der sich in der Küche nicht auskennt, ist ein Hobbykoch. Immer muss ich den Schlangenfraß loben, den Ludwig kocht und der ganze Abwasch und Aufräumen bleibt an mir hängen. Der kommt ja nicht auf die Idee zwischendurch schon was sauber zu machen.“

„Das lernt man ja auch nicht in den Kochsendungen im Fernsehen, da wird immer nur kreativ gekocht. Wer hinterher den Dreck weg macht, das sieht ja keiner.“

Die Damen nicken einander zu.

Anneliese kommt zurück.

„Gerd kam gerade vom Augenarzt. Er sieht ja kaum was, weil er so Tropfen ins Auge bekommen hat“, sagt sie entschuldigend und setzt sich.

4. Februar – Gevatter Tod

Eines Abends klopfte Gevatter Tod an die Tür. Eine junge Frau kam und machte ihm auf. Im ersten Moment erschrak sie, aber dann sagte sie: „Tretet ein Gevatter! Ich weiß zwar nicht, ob Ihr aus einem besonderen Grund zu mir gekommen seid oder nur so vorbeischaut, aber ich heiße Euch herzlich willkommen.“

Sie geleitete Gevatter Tod zum Tisch und bewirtete ihn mit süffigem Wein und gutem Essen. Als der Tod eine Weile geschmaust hatte, sah er sich im Haus um. Er sah, dass der Ehemann der Frau im Bett schlief und sie ihn wahrlich liebte. Und da dachte der Tod bei sich: Es wird nicht so viel ausmachen, wenn ich die Frau noch ein Weilchen hier lasse. Und er bedankte sich herzlich für die Bewirtung, stand auf und ging von dannen.

Viele Jahre später klopfte Gevatter Tod wieder an diese Tür und die Frau kam und öffnete ihm. Sie war etwas älter geworden und sah krank aus. Als sie den Tod sah, erschrak sie, fasste sich dann und sagte: „Tretet ein Gevatter! Ich weiß zwar nicht, ob Ihr aus einem besonderen Grund zu mir gekommen seid oder nur so vorbeischaut, aber ich heiße Euch herzlich willkommen.“

Sie geleitete Gevatter Tod zum Tisch und bewirtete ihn mit süffigem Wein und gutem Essen. Als der Tod eine Weile geschmaust hatte, sah er sich im Hause um und er sah den Mann der Frau im Bett liegen und schlafen. Er sah die Kinder der Frau, eines gerade erst geboren, sanft schlummern. Und er sah, dass sie alle wahrlich liebte. Da dachte der Tod bei sich: Es wird nicht so viel ausmachen, wenn ich die Frau noch ein Weilchen hier lasse. Und er bedankte sich herzlich für die Bewirtung, stand auf und ging von dannen.

Viele Jahre später klopfte Gevatter Tod wieder an die Tür dieser Frau. Es dauerte eine ganze Zeit, bis sie öffnete. Die Frau war alt geworden, ihre Haare waren schlohweiß und es fiel ihr schwer zu gehen. Als sie den Tod sah, erschrak sie im ersten Augenblick, aber dann sagte sie: „Tretet ein Gevatter! Ich weiß zwar nicht, ob Ihr aus einem besonderen Grund zu mir gekommen seid oder nur so vorbeischaut, aber ich heiße Euch herzlich willkommen.“

Sie geleitete Gevatter Tod zum Tisch und bewirtete ihn mit süffigem Wein und gutem Essen. Als der Tod eine Weile geschmaust hatte, schaute sich der Gevatter im Hause um. Der Liebste der Frau war längst schon von ihr gegangen, sogar einige ihrer Kinder hatte der Gevatter schon geholt, aber sie hatte zahlreiche Enkel und Urenkel, und der Tod sah, dass die Frau sie alle herzlich liebte.

Dann sah er die Frau an und erkannte, dass sie inzwischen sehr alt und alles beschwerlich geworden war. Also blickte er sie freundlich an und fragte: „Bist Du nun bereit mir zu folgen?“ Und die Frau sah sich lange im Haus um und nahm in ihrem Herzen Abschied von dem langen Leben, das sie geführt hatte.

Schließlich nickte sie, ergriff die Hand des Gevatters und schritt mit ihm in die Nacht hinaus. Aber ihr Körper blieb friedlich in ihrem Bett liegen und ruhte für immer.

3. Februar – Mein erster Einsatz

Mein erster Einsatz für den Sicherheitsdienst war nicht ganz ungefährlich. Genau aus diesem Grunde hatte man mich wohl auch gefragt. Es galt das jüngste Kind einer Arztfamilie zu schützen. Dieses Kind war die Wiedergeburt einer großen Heiligen. Weder es selbst noch die Eltern wussten zu diesem Zeitpunkt davon. Aber die Anderen wussten es. Und die wollten verhindern, dass das Kind alt genug wurde um sich zu erinnern und seine Arbeit aus dem vorherigen Leben wieder aufzunehmen.

Mir selbst leuchtete nicht ganz ein, was an der Wiedergeburt der Heiligen so gefährlich sein sollte. Die Anderen hatten wahrscheinlich eine Prophezeiung aus Hühnerknochen gelesen oder wie sie auch sonst zu ihren merkwürdigen Schlüssen kamen. Fest stand jedenfalls, dass das Kind in Gefahr war.

Ich bewarb mich als Au-pair bei der Familie und bekam die Stelle. Das war einfach. Als Nächstes gelang es mir, das Vertrauen meines Schützlings zu gewinnen. Die anderen Kinder des Hauses waren älter. Ich konnte sie für mich begeistern, indem ich ihnen in keiner Weise in ihre Freizeitaktivitäten hineinredete. Hauptsache die Eltern merkten nichts. Aber das war leicht. Eltern wollen die Fehler ihres Nachwuchses ohnehin nicht bemerken. Das verlangte also wenig Magie. Schwieriger wurde es, nachdem ich die Stadtwohnung erkundet hatte und die Schutzzauber zu ziehen begann.

Ab dem Augenblick war es nur eine Frage der Zeit, dass den Anderen bewusst wurde, dass ihr nächstes Opfer Unterstützung vom Sicherheitsdienst hatte. Sie griffen mehrfach an, konnten aber nichts erreichen, solange das Kind in der Wohnung oder in einer der anderen Schutzzonen blieb. Natürlich hatte ich den Kindergarten, das Schwimmbad und alle Orte, die die Kleine regelmäßig aufsuchte, ebenfalls gesichert. Aber es blieben noch genug Gelegenheiten und eine davon nutzten sie.

Ich sollte das Kind zur Geburtstagsfeier einer Kindergartenfreundin begleiten. Natürlich war das eine Falle. Kaum hatte ich, die Kleine an der Hand, das angebliche Haus der Freundin betreten, wurde mir schwummrig. Dieses Gefühl alarmierte mich so weit, dass ich die Kleine auf den Arm nahm, bevor wir in den fünften Stock hinaufstiegen. Sie hatten eine Sperre benutzt, um mich daran zu hindern, ihre Falle zu durchschauen. Es gelang ihnen nur halb, sonst hätten sie das Kind bereits in ihrer Gewalt gehabt.

Am obersten Treppenabsatz standen wir vor einer vernagelten Tür, als ich mich umdrehte, war die Treppe hinter mir verschwunden. Mir blieb nichts anderes übrig als durch eine niedrige seitliche Tür zu gehen, die eine kleine Treppe hinab in einen Nebentrakt führte.
Immerhin kam ich so weit zu mir, dass es mir merkwürdig vorkam, was hier geschah.

Trotzdem war ich noch nicht in der Lage einen eigenen Plan zu fassen, geschweige denn auszuführen. Eine Frau trat aus ihrer Wohnungstür und bot ihre Hilfe an. Sie geleitete uns in ihre Wohnung. Aber kaum hatten wir das große Hinterzimmer betreten, wurde mir schlagartig klar, dass ich in eine Falle getappt war. Es blieb mir keine Zeit mich zu ärgern, es war Zeit zu kämpfen. Ich musste das Kind absetzen. Ich sprach einen Schutzzauber und hoffte, dass der alles aufhalten würde, was die Gegner zu senden im Stande waren.

Der Kampf war schmutzig. Besseres war von den Anderen nicht zu erwarten. Schließlich gelang es mir, die Frau in die Klammer zu nehmen. Das Kind weinte währenddessen herzzerreißend. Plötzlich merkte ich, dass das Kind die Gestalt der heiligen Frau angenommen hatte.

Eine Frau mit weißen Haaren, mit Falten und dem Ausdruck einer weinenden Dreijährigen im Gesicht schaute mich an. Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder voll meiner Gegnerin zu. Die Klammer hielt, ich überlegte, was nun zu tun sei. Ich zögerte einen Moment, dann drückte ich zu und tötete sie.

Das hätte ich nicht tun sollen, denn sie kam augenblicklich mit einem mächtigen Gegner als Verstärkung zurück. Die Anderen hatten einen verbotenen Zauber angewandt. Zumindest uns war er verboten. Nun galt es beide im Kampf zu beschäftigen, damit keiner von beiden an die Kindgreisin herankommen konnte. Und ich musste meine Strategie ändern.

Wenn Töten nicht funktionierte, musste ich mich mit einem Bannzauber begnügen. Der hielt zwar nur eine Stunde an, maximal. Aber ich würde dennoch genug Zeit zur Flucht gewinnen. Also nutzte ich einen günstigen Moment im Kampf, drückte meinen Gegnern meine Zeigefinger auf die Stirn und sprach einen Bannfluch. Sofort erschlafften die Körper und segelten sanft in der Luft schwebend dahin.

Die Kindgreisin schaute mich mit großen Augen an. Ich lächelte beruhigend und berührte sie sanft an der Schulter. Augenblicklich stand wieder das kleine Kind vor mir und wollte zur Tür laufen.

„Nein, nein“, rief ich und schnappte sie am Arm. „Wir nehmen lieber einen sicheren Weg.“ Ich zeichnete einen Türausschnitt an die gegenüberliegende Wand, nahm die Kleine auf den Arm und verließ diesen ungastlichen Ort. Dieses Mal kamen wir unbeschadet davon.

2. Februar – Antäus

Antäus war ein guter Sohn und Bruder. Er hatte gelernt, seine Mutter Gaia zu ehren und allen Frauen gegenüber respektvoll zu sein. Er stand immer in Kontakt mit Gaia, er war innig mit ihr verbunden und schöpfte seine große, übermenschliche Kraft aus der Zugehörigkeit zu ihr.

Heute würde man ihn vielleicht ein Muttersöhnchen nennen, aber das war Antäus nie. Er war immer ein richtiger Kerl, stark und voller Witze und Späße, manchmal ein bisschen faul und träge, aber meistens erfüllte er seine Aufgaben, bevor er sich eine Pause gönnte. Er war ein Held, opferbereit und mutig. Aber er bezog seine Kraft nun einmal aus der Verbindung mit seiner Mutter, der großen Erdmutter Gaia.

Und eines Tages, als Zeus schon lange den Olymp erklommen und sich zum Göttervater erklärt hatte, da traf Antäus auf Herkules. Herkules war nicht stärker als Antäus. Er war ungefähr gleich stark. Aber er hatte einen entscheidenden Vorteil. Herkules wusste, wie er Antäus schwächen konnte. Er hob ihn einfach vom Erdboden hoch, damit er keinen Kontakt mehr zu seiner Mutter Gaia hatte. Und dann zerquetschte er ihn wie eine reife Birne. Er brach ihm das Rückgrat und machte ihn zu einem jämmerlichen Krüppel.

Diese Geschichte ist nur ein Mythos, aber sie sollte allen Männern zeigen, dass sie sich auf keinen Fall als Söhne ihrer Mütter sehen dürfen. Denn die Macht der Mutter sei allzu leicht zu brechen. Aber am Schicksal von Herkules ist abzulesen, dass die Macht der Väter noch viel weniger weit reicht. Vielleicht wäre es ihm besser bekommen, wenn er seine Mutter mehr geehrt und Frauen besser behandelt hätte.

1. Februar – Meine Natur

Zu meiner Natur gehört das Streben nach Erfahrung, nach Wissen, nach Erkenntnis.

Zu meiner Natur gehören Liebe und Vergebung.

Zu meiner Natur gehören Hass und Rache.

Zu meiner Natur gehört es festzuhalten und loszulassen.

Zu meiner Natur gehören das Gebären und das Töten.

Zu meiner Natur gehört es all meine Sinne zu verschließen.

Zu meiner Natur gehört es all meine Sinne zu öffnen.

Zu meiner Natur gehört es zu bewerten und zu zerteilen, aber zu meiner Natur gehört es auch zu sein und zu vereinen.

Zu meiner Natur gehört das Werden und Vergehen.

Zu meiner Natur gehören die Steine, die Tiere, die Pflanzen, die Menschen, die ganze Welt, das ganze Universum – und nichts davon.

31. Januar – Die Sache mit der Zeit

„Einmal nach Paris fahren, das würde ich ja gerne mal machen, wenn ich Zeit hätte.“

„Mal wieder mit den Kindern ins Schwimmbad“, das würde ich gerne machen, wenn ich Zeit hätte.“

„Einmal nach Lascaux fahren und die Höhlenmalerei in natura sehen! Das würde ich gerne machen, wenn ich Zeit hätte.“

So fing das damals an und dann hast du alles verschoben auf später. Die Höhlen von Lascaux darf seit 1963 kein Normalsterblicher mehr besichtigen. Die Chance ist also lang schon vorbei.

Deine Kinder sind schon groß und gehen – falls sie Zeit haben – mit ihren eigenen Kindern ins Schwimmbad.

Und Paris, den Eiffelturm, der Louvre, Moulin Rouge, Champs Élysées – einfach verpasst. Erst kein Geld, dann keine Zeit, dann zu alt und krank.

Das Ende vom Lied: Paris niemals gesehen, niemals den Trubel auf den Straßen erlebt, niemals die freie Stadtluft gerochen, niemals den Zauber berührt. Später war irgendwann vorbei und geblieben sind deine ganzen unerfüllten Wünsche in einer großen Dose.
Jedes Jahr an deinem Todestag ziehe ich einen daraus, erfülle ihn mir und denke an dich.