10. Juli – Das Mädchen unter dem Tisch

„Was treibst du dich hier herum?“ Franz reagierte wütend, als er das kleine Mädchen unter dem Tisch entdeckte, als er gerade die Stühle hochzustellen begann. Es war spät, Sperrstunde vorbei. Die letzten Gäste hatte er gerade hinausgescheucht, die Tische abgeräumt und abgewischt. Dabei war er so müde. Und morgen früh hieß es schon wieder um fünf Uhr auf dem Großmarkt einkaufen. Und dann das! Ein Kind unter dem Tisch.

Sie wischte sich die Augen. Franz wusste nicht, ob das Mädchen geweint oder geschlafen hatte, aber ihre Augen waren verquollen. Ängstlich zuckte sie zurück, als er unter dem Tisch nach ihr greifen wollte.

„Na, ich tu dir schon nichts“, knurrte er. „Wie heißt du überhaupt?“ Das Mädchen schaute ihn misstrauisch an.

„Eva“, piepste sie schließlich.

„Ich heiße Franz. Und jetzt komm schon raus! Ein alter Mann wie ich sollte sich nicht so lange bücken müssen.“

Vorsichtig schob sich Eva seitlich unter dem Tisch hervor und stand auf. Sie strich ihre Bluse glatt.

„Schon besser“, sagte Franz. „Kannst mir mal helfen die Stühle hochstellen!“

Das ließ sich Eva nicht zweimal sagen. Eifrig half sie dabei und kaum drei Minuten später war schon alles erledigt.

„So“, sagte Franz und packte seine Sachen zusammen „dann fahr ich dich noch eben nach Hause.“

Erschrocken schaute Eva ihn an, dann ein schneller Blick zur Tür.

„Nein!“

„Aber was zur Hölle…“, begann Franz und verstummte.

So groß und ängstlich konnten Kinderaugen aussehen. Eva zog sich in sich zusammen, als wäre sie eine Schnecke, der das Haus abhandengekommen war. Franz schüttelte den Kopf. Wer tat Kindern sowas an?

„Hör mal“, sagte er, du kannst auch hier übernachten. Hinten gibt’s ein Sofa.“

Er führte sie in den kleinen Flur hinter der Küche. Dort stand sein altes, abgewetztes Sofa, wo er ab und zu ein Mittagsschläfchen machte. Es lohnte ja nicht, um drei Uhr nachmittags für die paar Stunden bis zum Abendbetrieb in seine Wohnung zu fahren. Er kramte eine Decke aus dem Dielenschrank. Eva beobachtete ihn misstrauisch.

„Magst was trinken oder essen?“, fragte er. Sie schüttelte den Kopf. Er stellte ihr trotzdem eine Flasche Apfelsaft hin und machte schnell ein belegtes Brot für das Mädchen. Sie beobachtete ihn genau, bei jedem Handgriff. Als er ihr den Teller hinstellte, setzte sie sich vorsichtig auf die Ecke des Sofas.

„Ich schließe ab. Morgen früh bin ich aber wieder hier und lass dich raus. Geht leider nicht anders“, fügte er bedauernd hinzu.

Am nächsten Morgen fuhr Franz wie jeden Tag zum Großmarkt. Gegen Sieben kam er in seiner Gaststätte an und schloss die Hintertür auf. Eva war verschwunden. Als er nachschaute, stand das Toilettenfenster offen.

Die Decke hatte sie ordentlich zusammengefaltet. Dann schaute er nach. Die 20 Euro, die er extra im großen Portemonnaie hatte liegen lassen, hatte sie nicht mitgenommen. Auch sonst fehlte nichts.

„Armes Kind“, dachte er. „Hoffentlich schaffst du’s!“

Dann räumte er die Waren in den Kühlraum.

9. Juli – Cecilia

Cecilia blieb als Letzte übrig, wie immer. Keine ihrer Schulkameradinnen wollte sie in ihrer Völkerballmannschaft haben. Dafür war Cecilia einfach zu ungeschickt. Nie schaffte sie es, den Ball zu fangen, wenn sie doch mal eine Mitspielerin anspielte und außerdem war sie so langsam, dass sie praktisch sofort getroffen wurde und das war es dann. Sie schaffte es nie zurück ins Spiel. Und auch heute war es wieder so.

Die anderen spielten, sie strengten sich an, sie lachten und hatten Spaß. Und Cecilia saß in der Hölle fest. Auch als andere Spielerinnen dazukamen, beachteten die Cecilia nicht. Schließlich war sie einfach zu merkwürdig. Später dann im Mathematikunterricht saß Cecilia still in der dritten Reihe. Niemals meldete sie sich. Sie zitterte davor, dass der Lehrer sie aufrufen könnte. Aber meistens hatte sie Glück. Der Lehrer nahm dann nur die dran, die sich meldeten. Und die glänzten und wussten die Antworten. Alle anderen waren eben einfach schlauer als Cecilia. So war das den ganzen Tag.

Nur im Kunstunterricht da geschah plötzlich etwas Unerwartetes. Die Lehrerin befahl den Mädchen, ihren rechten Schuh auszuziehen und vor sich auf den Tisch zu stellen. Den Schuh sollten die Mädchen zeichnen. Eifrig packten sie Papier und Bleistifte aus und strichelten los. Cecilia beugte sich besonders tief über ihr Blatt. Nur kurze Blicke warf sie auf den Schuh vor sich. Mit sicheren Bewegungen ihrer Hand warf sie die Konturen des Schuhs aufs Papier und arbeitete die dunkle Lederoberfläche, das silbrige Glänzen der Schnalle, die dunklen Falten im Leder, den leicht schiefen Absatz, die abgewetzte Stelle an der Ferse mit Licht und Schatten heraus.

So eifrig war sie bei der Sache, dass Cecilia sogar das Klingeln überhörte. Erst als sie die anderen Mädchen die Stühle an die Plätze rücken sah. Und eine nach der anderen mit ihrer Schultasche über der Schulter der Lehrerin ihr Werk abgab, da merkte sie, dass die Doppelstunde zu Ende war. In der Aufregung vergaß Cecilia, ihren Namen auf das Papier zu schreiben. Schnell packte sie ihre Sachen zusammen und legte ihren Schuh beim Hinausgehen auf den Stapel mit Zeichnungen.

In der nächsten Kunststunde gab die Lehrerin die benoteten Zeichnungen zurück. Eine Zeichnung, sagte sie, habe ihr besonders gefallen. Sie sei mit außerordentlich sicherem Strich gezeichnet und zeige das wahre Wesen des Schuhs. Dies sei schließlich das Ziel der Kunst, das wahre Wesen der Welt einzufangen, das ja für jeden anders und besonders sei. Das verlange einen sehr genauen Blick und die Fähigkeit die Wirklichkeit zu durchdringen. Und sie freue sich, dass sie eine so begabte Künstlerin in der Klasse habe. Leider habe die aber vergessen, ihren Namen auf das Blatt zu schreiben. Und dies sei das Bild. Die Lehrerin hob Cecilias Zeichnung hoch. Die Mädchen schauten ehrfürchtig auf die Zeichnung, die dermaßen von der Lehrerin geadelt wurde.

„Du kannst dich ruhig melden“, sagte die Lehrerin in die Klasse hinein.
Wen sah sie denn bloß an? Die Mädchen blickten sich gegenseitig an, welche von ihnen denn nun diesen sagenhaft realistischen Schuh zu zeichnen in der Lage gewesen war, diesen Schuh, der das Wesen aller Schuhe abbildete, den Schuh, der die Wirklichkeit durchdrang. Suchend irrten ihre Blicke. Keiner traf Cecilia. Die langweilige Cecilia, die konnte ja nichts. Die war doch nur merkwürdig und still und zu nichts zu gebrauchen.

Aber plötzlich ging die Lehrerin gerade auf diese Cecilia zu, legte das Blatt vor sie hin und sagte: „Wirklich hervorragende Arbeit, eine Eins plus! Denk das nächste Mal ans Signieren.“

Die Lehrerin lächelte sie freundlich an. Cecilias Gesicht erstrahlte glutrot, automatisch senkte sie den Blick. Da sah sie ihren Schuh auf dem weißen Papier. Den hatte sie gezeichnet. Sie und keine andere. Sie hatte die beste Zeichnung abgeliefert.

Da hob sie den Kopf und schaute das erste Mal seit langer Zeit ihren Mitschülerinnen in die Augen.

8. Juli – Positiv denken in der Katastrophe

Eines Tages stürzte Jens ins Labor und verkündete, dass es tatsächlich geschehen war. Die Katastrophe war eingetreten. Lange Jahre hatten wir alle gewarnt. Ständig hatten wir Lobby-Arbeit gemacht. Für den Klimaschutz, gegen die Regenwaldrodung, für fairen Handel, gegen Genfood.

Und nun war es passiert: Die ersten Toten nachweislich durch genetisch manipulierte Nahrung. Natürlich brodelte es seit langem. Aber bisher war es der Regierung, den Wirtschaftsvertretern immer gelungen den Deckel drauf zu halten.

Die Meldung verbreitete sich in sekundenschnelle um den Globus.
Diesmal war es nicht aufzuhalten. Es hatte fast alle Menschen auf einem Luxusdampfer erwischt, sämtliche Passagiere inklusive Mannschaft und Kapitän waren vergiftet worden, es hatten nur 16 Personen überlebt.

Nur mit Mühe konnten sie einen Hafen anlaufen, um sich dann in Quarantäne wiederzufinden. Zunächst wurde Vogelgrippe vermutet oder eine andere Viruserkrankung. Aber dann stellte sich heraus, dass das Fleisch von genmanipulierten Rindern die Ursache war.

Der Skandal offenbarte, dass weltweit bereits mehrere tausend Menschen an genau diesem veränderten Rindfleisch draufgegangen waren. Es entwickelte sich eine Art gallopierender Creutzfeld-Jakob-Variante. Die 16 überlebenden Personen auf dem Dampfer aßen allesamt kein Rindfleisch. Das hatte sie gerettet.

Und wir? Unsere Organisation? Uns wurden nach dem Aufdecken dieses Skandals sämtliche Gelder gestrichen.

Diese Rumstänkerei müsse aufhören, haben die Leute gesagt. Wir würden dieses ganze Unglück doch geradezu herbeireden. Wenn wir endlich aufhören würden immer die ganzen Missstände zu erfinden, dann wäre die Welt wieder in Ordnung. Alle wären glücklich. Und die Zukunft könne sowieso keiner aufhalten.

Wir sollten lieber lernen, positiv zu denken, das würde allen helfen.

7. Juli – Gertrud backt Pfannkuchen

„Verdammt nochmal!“ Gertrud schleuderte den verbrannten Pfannkuchen wütend in den Mülleimer. „Das gibt es doch nicht!“ Das war schon der dritte Pfannkuchen, der ihr verbrannte.

Beim ersten hatte es an der Tür geläutet. Der Postbote hatte ein Paket für den Nachbarn gebracht, der nie aufmachte. Das legte Gertrud dem Nachbarn noch schnell vor die Wohnungstür und als sie zurückkam, da qualmte es schon über dem Herd. Schnell zog sie die Pfanne von der Platte und riss das Fenster auf.

Das war der erste Pfannkuchen, der in den Mülleimer wanderte. Sie wischte die Pfanne aus, gab frisches Öl hinein und stellte sie wieder auf die heiße Platte. Pfannkuchenteig hinein. Diesmal würde sie aufpassen. Aber ihr Telefon läutete, Max war dran, sie erzählte ihm das Malheur mit dem Pfannkuchen. Plötzlich schlug sie sich an die Stirn, der zweite Pfannkuchen, sie hatte ihn vergessen und jetzt roch es schon wieder merkwürdig. Schnell rannte sie in die Küche und nahm die Pfanne vom Herd. Zwar qualmte der Pfannkuchen noch nicht, aber er war trotzdem völlig schwarz geworden. Also ab damit in den Müll.

Aber beim nächsten würde alles gut gehen. Gleichgültig, ob es klingelte, läutete, das Haus einstürzte. Sie würde neben dem Herd stehen bleiben und diesmal würde der Pfannkuchen genau richtig werden, auf jeder Seite zartgebräunt und innen goldgelb. Dann würde sie leckeren Ahornsirup darübergießen und ihn direkt aus der Pfanne essen. Mmh. Ihr lief schon das Wasser im Mund zusammen. Hatte sie denn überhaupt noch Ahornsirup? Sie schielte kurz zum Pfannkuchen. Der brauchte noch eine Weile.

Also lief sie schnell zur Vorratskammer und schaute nach dem Sirup. Da war ja gar keiner mehr. Schade. Aber sie hatte noch Honig. Oder was war das dort hinten? Sie räumte gerade ein paar Gläser ohne Beschriftung aus der hinteren Reihe nach vorn, da roch sie es. Angebrannt! Unverkennbar! Schon wieder! Auch der dritte Pfannkuchen gesellte sich zu den beiden anderen im Mülleimer.

Und noch einmal von vorn. Das war ihr letzter Rest Teig. Diesmal konnte sie sich keinen Fehler mehr leisten. Diesmal musste Gertrud unbedingt ihre ganze Aufmerksamkeit dem Gelingen des Pfannkuchens widmen. Sie stellte sich neben den Herd, als das Fett in der Pfanne genau die richtige Temperatur erreicht hatte, gab sie den letzten Pfannkuchenteig in die Pfanne. Sie dachte an Dosenobst und verbot es sich. Es klingelte an der Tür. Sie überhörte es. Eisern behielt sie den Pfannkuchen im Blick. Sie wendete ihn genau im richtigen Moment. Dann zog sie die Pfanne von der Platte, schaltete diese aus und stellte sich einen Teller auf den Tisch, Besteck daneben.

Dieser Pfannkuchen hatte einen gedeckten Tisch verdient. Sie gab den Pfannkuchen auf den Teller. Dann fiel ihr ein, dass der Ahornsirup im Kühlschrank stand, und holte ihn herbei. Dann gab sie genau die richtige Menge Ahornsirup über den Pfannkuchen, nahm die Gabel und teilte einen Bissen ab. Innen war der Pfannkuchen goldgelb und locker. Es dampfte leicht. Mit vollem Genuss steckte sie das erste Stück in den Mund, kaute, erstarrte und spuckte aus.

„Verdammt nochmal!“ Sie hatte Zucker mit Salz verwechselt und der Pfannkuchen war total versalzen. Voller Bedauern ließ Gertrud auch dieses Prachtstück in den Mülleimer wandern. Dann holte sie tief Luft. Was blieb ihr anderes übrig? Sie holte die Eier aus dem Kühlschrank, das Mehl aus dem Schrank. Dann eben wieder von vorn.

5. Juli – Ein kleiner Tierfreund

Es war einmal ein kleiner Tierfreund, der brachte jeden Tag irgendein verirrtes oder verletztes Tier mit nach Hause. Einmal war es ein Hund, dann ein Kaninchen, dann eine Brieftaube, manchmal auch nur eine arme Spinne, der ihr Netz zerrissen war oder ein Eichhörnchen, das sich den Knöchel verstaucht hatte.

Die Eltern des Jungen waren verzweifelt. Sie konnten ihm das einfach nicht austreiben. Sie hatten alles versucht. Sie hatten ihm verboten Tiere mitzubringen. Der Junge hatte es ignoriert. Sie hatte ihn angefleht. Aber der Junge hatte auf das Leid der Tiere hingewiesen. Das sei doch weitaus größer als das ihre.

Schließlich versuchten die Eltern, die Tiere heimlich fortzuschaffen, aber es nützte nichts, der Junge brachte sie am nächsten Tag einfach wieder mit oder sie kamen von selbst wieder. Es wäre ja vielleicht noch gegangen, wenn der Junge die Tiere nur in seinem Zimmer gehalten hätte.

Aber sie sprangen in der ganzen Wohnung herum. Die mitgebrachten Spinnen webten riesige Spinnennetze, erst in den Zimmerecken, dann aber auch über den Tür- und Fensteröffnungen. Und natürlich durfte niemand die Netze zerstören. Das hätte ja die Spinnen traurig gemacht. Die Hunde wohnten im Parterre, die Katzen unter dem Dach dort konnten sie über einen Ast, der fast bis zum Dachfenster reichte, ein und aus gehen wie sie wollten.

Die Eichhörnchen, Mäuse und sonstigen Kleintiere wohnten im ersten Stock. Im Keller tummelten sich noch zahlreiche andere Tiere. Für die Vögel hatte der Junge im Garten Volieren gebaut. Natürlich konnten sie von dort ausfliegen, wie sie lustig waren. Denn er zwang kein einziges Tier bei ihm zu bleiben, sie blieben alle freiwillig und lebten sogar einigermaßen einträchtig untereinander, nur um dem Jungen einen Gefallen zu tun.

Nur die Eltern, die hielten es irgendwann nicht mehr aus und suchten sich eine Wohnung weit, weit fort von dieser Menagerie. Und wenn sie nicht gestorben sind, ärgern sie sich heute noch.

4. Juli – Berenica Cruz

Berenica Cruz war eine wunderschöne Frau, glutäugig, schwarzhaarig, volle Lippen, üppige Figur. Wenn sie sich von Weitem näherte, verkörperte sie ganz und gar das Ideal einer schönen Spanierin, die sie schließlich auch war. Nur aus der Nähe verlor sie plötzlich und unerwartet. Das lag an Details.

Berenica gab einem die Hand so nachlässig und lasch, dass sie wie ein toter Fisch schnell losgelassen werden musste. Auch ihre Sprache ließ das Temperament vermissen, dass ihr Aussehen versprach. Ihre Stimme war sehr leise und hoch. Und auch ihr Lachen schallte nicht durch den Raum, sondern war nur ein glucksendes Kichern hinter vorgehaltener Hand. Überhaupt war Berenica sehr schüchtern und froh, wenn sie nicht angesprochen wurde. Aber genau das geschah natürlich unentwegt.

Vor allem Männer sprachen sie an, wollten sie einladen auf einen Kaffee, auf einen Wein, zum Frühstück. Sie hatte sich schon alle erdenklichen schönen, romantischen, plumpen oder langweiligen Anmachsprüche anhören müssen. Aber kaum hörten die Männer sie höflich ablehnen, fühlten, wie sie ihnen die Hand reichte, oder erlebten ihr glucksendes Kichern, erlosch ihr Interesse auf merkwürdige Weise.

So kam es, dass Berenica zu den Frauen gehörte, denen immer gesagt wurde: „Warum eine Frau wie du noch keinen Mann abgekriegt hast, ist mir unverständlich“. Und irgendwann hatte es Berenica satt. Eigentlich wollte sie nicht unbedingt einen Mann kennenlernen. Warum das so wichtig sein sollte, war ihr ohnehin rätselhaft. Aber sie wollte unbedingt zu sich selbst passen. Entweder also musste die glutäugige Spanierin dran glauben oder sie musste die Schüchternheit, den laschen Händedruck, das alberne Kichern und die piepsige Stimme ablegen. Die Schwierigkeit bestand darin, zu entscheiden, wer sie denn nun eigentlich war. Also ging Berenica zu einer Hexe, einer Wahrsagerin. Eine Freundin hatte sie ihr empfohlen.

Die Frau war alt und weißhaarig. Als Berenica in ihre Stube trat, paffte die Alte gerade an einer dicken Zigarre. Auf dem Tisch vor ihr stand noch eine Untertasse mit Kaffeesatz, von der letzten Kundin übriggeblieben. Ein Stapel Tarotkarten lag vor einem kristallenen Aschenbecher, der mit dicken Zigarrenstumpen bis zum Rand gefüllt war. Zweihundert Euro verlangte die Wahrsagerin. Und obwohl ihr dieser Betrag viel zu hoch erschien, zog Berenica die Scheine mit zitternden Fingern aus ihrem Portemonnaie und schob sie über den Tisch der Alten zu. Die zählte noch einmal nach und schob das Geld in ihre Rocktasche. Dann hieß sie Berenica, sich hinzusetzten, nahm selbst Platz. Gab Berenica die Karten zum Mischen.

„Mit der Herzhand! Konzentrier dich auf Deine Frage“, befahl sie knapp.

Berenica wechselte die Karten in die linke Hand. Schließlich legte sie den gemischten Stapel wieder zurück auf den Tisch. Die Wahrsagerin nahm sie und deckte die erste Karte auf und legte sie auf den Tisch. Sie zeigte den Teufel. Dann folgte als zweite Karte der Gehängte, als dritte das Gericht. Die Wahrsagerin paffte an ihrer Zigarre und sagte lange Zeit nichts.

Berenica wurde es unbehaglich zumute. Sie räusperte sich. Aber immer noch schwieg die Wahrsagerin. Berenica rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Besonders gut sah das doch nicht aus. Warum sagte die Wahrsagerin denn nichts? Schließlich drückte die Alte den Stumpen im Aschenbecher aus, seufzte noch einmal behaglich.

„Armes Kind“, sagte sie dann, „in der Vergangenheit warst du gefangen in einem schönen Leib mit einer ängstlichen Seele ohne Selbstvertrauen und Selbstliebe. Nun beginnst du einen Prozeß der Loslösung. Die Widersprüche werden unwichtig. Das ist schmerzhaft aber gut. Denn in Zukunft wirst du dein Leiden überwinden und ein völlig neuer Mensch sein.“

Berenica war sprachlos, ihr stand der Mund offen. Endlich fasste sie sich und sagte: „Und das war’s? Ich meine, das war alles, was sie mir für 200 Euro zu sagen haben? Da kann ja meine Mutter besser wahrsagen!“

Die Alte lehnte sich zurück und strahlte Berenica an. „Die Zukunft hat bereits begonnen“.

„Unverschämtheit!“, brüllte Berenica und pfefferte den Aschenbecher an die Wand. Sie sprang auf und drohte der Alten mit dem Finger: „Sie hören von mir!“

Dann rauschte sie auf die Straße und eilte zur nächsten Bushaltestelle. Kaum hatte sie dort 30 Sekunden gewartet, sprach sie ein Mann an: „Ihre Augen glitzern wie die hellsten Sterne, Signorina, bitte gehen sie mit mir einen Kaffee trinken“. Berenica holte aus und gab dem Kerl eine Backpfeife.

Nun funkelten ihre Augen wirklich wie Sterne. Und obwohl ihre Hand schmerzte, begann sie zu lächeln. Was war nur mit ihr geschehen, sie kannte sich selbst kaum wieder. Berenica hatte zwar keine Ahnung, was diese Wahrsagerin mit ihr gemacht hatte, aber wenn sie wirklich diese Veränderung bewirkt hatte, dann hätte sie 2000 Euro verdient.

2. Juli – Am Hauptbahnhof

Steht da wie ein Depp. Die Blumen sind bereits welk. Wartet und wartet immer noch. Am Siebenundzwanzigsten um dreizehn Uhr dreißig. Das hatte sie gesagt am Telefon. Sie hatte auch gesagt am Hauptbahnhof, Gleis sechzehn.

Also stand er seit kurz vor halb zwei am Hauptbahnhof, Gleis sechzehn. Aber keine Julia. Der Zug war eingefahren und er hatte erwartungsvoll die Reisenden gemustert, die ihm am Bahnsteig entgegenkamen. Es waren sehr viele Reisende. Der Zug endete hier.

Als auch die letzte Großmutter mit ihrem Rollkoffer vorbeigezuckelt und immer noch keine Julia in Sicht war, ging er am Zug entlang und spähte in die Waggons. Keine Julia. Ganz vorn stieg er ein und lief durch den Zug zurück. Keine Julia. Also stand er wieder am Gleis, die Blumen immer noch in der Hand.

Vielleicht hatte sie einen Zug später genommen. Er schaute auf den Plan. In zwei Stunden würde der nächste Zug erst eintreffen. Einen Augenblick bedauerte er, dass er so ein Handyhasser war. Er besaß nämlich keins.

Also machte er sich auf die Suche nach einer Telefonzelle. Die sahen natürlich heute gar nicht mehr aus wie Zellen, mehr so wie Muscheln. Als er eine fand, nahm der Apparat nur Telefonkarten. Also suchte er weiter. Schließlich fand er ein Telefon, das er mit Kleingeld füttern konnte. In seinem Portemonnaie fand er nur noch ein Euro und zehn Cent. Sein letztes Kleingeld war für die Blumen draufgegangen. Auch das bedauerte er jetzt.

Er tippte die Nummer von Julias Mobiltelefon ein. Julia war ja modern. Sie besaß so etwas. Aber sie ging nicht ran. Er wollte eine kurze Nachricht auf ihrer Mailbox hinterlassen. Aber was nutzte das? Sie konnte ihn sowieso nicht erreichen. Außerdem, wie sähe das aus? So eine alberne Nachricht im Stile von, ich stehe am Bahnhof und du bist nicht da. Er kam sich sowieso schon vor wie ein Idiot. Als er die Blumen wieder vom Münzfernsprecher nahm, hatte die erste einen Knick.

Jetzt war es ohnehin so spät, dass der nächste Zug gleich einfahren musste. Er ging zurück zu Gleis sechzehn. Er wartete. Es begann wieder das gleiche Spiel. Keine Julia. Er suchte im Zug. Keine Julia. Dann dachte er, vielleicht haben wir uns verpasst und ging zur Information. Er ließ Julia ausrufen. Er wartete wieder, lief aufgeregt hin und her. Einige der Blumen hatten ein paar Blütenblätter eingebüßt.

Überhaupt, der Strauß wurde wirklich langsam welk. Und immer noch keine Julia. Der Zug aus M. fuhr planmäßig alle zwei Stunden ein. Da er nun solange gewartet hatte, beschloss er, auch den nächsten noch abzuwarten. Aber auch diesmal, keine Julia. Schließlich gab er auf. Julia kam nicht. Sie hatte ihn einfach vergessen. Vielleicht hatte sie etwas Besseres vor.

Steht da wie ein Depp. Die Blumen sind bereits welk. Er wirft sie in einen Mülleimer. Es dauert ewig, bis endlich eine Straßenbahn in seine Richtung kommt. Aber eine Stunde später schließt er endlich die Tür zu seiner Wohnung auf. Am Spiegel im Flur klemmt ein großer handgeschriebener Zettel. Julia, Hauptbahnhof, Achtundzwanzigster, dreizehn Uhr dreißig. Verfluchter Mist, sie kommt ja erst Morgen. Und er hat den Blumenstrauß schon weggeworfen.

30. Juni – Der Schlüssel

Es war einmal ein armes Mädchen, das hatte keine Eltern mehr, keine Geschwister und kein Zuhause. Es besaß nicht mehr als die Kleider auf dem Leibe und einen großen, metallenen Schlüssel. Aber niemand wusste, an welches Schloss er passte, auch das Mädchen nicht. Das Mädchen wusste nur, dass es unbedingt das Schloss finden musste.

Also ging es tagein tagaus durch Dörfer und Städte, durch Wälder und Felder, über Berge und durch Flüsse. Überall, wo das Mädchen ein Schloss fand, probierte es den Schlüssel. Aber nirgendwo passte er. Nachdem es schließlich ein Jahr und ein halbes so gegangen war, setzte es sich erschöpft nieder auf einen Stein am Wegesrand und überlegte, was es weiter tun sollte. Seine Kleider waren inzwischen zerschlissen, die Schuhsohlen waren durchlöchert und hungrig war das Mädchen auch ständig, denn es ernährte sich nur von den milden Gaben der Menschen und den Beeren und Früchten am Wegesrand.

Vielleicht sollte es lieber aufgeben. Den Schlüssel einfach wegwerfen. Wie viel Millionen Schlösser gab es auf der Welt, in die dieser Schlüssel vielleicht passen mochte? Wie lange sollte es dauern diese alle zu erreichen? Und vielleicht verbarg sich hinter der Tür, in der Truhe oder wo der Schlüssel sonst Einlass bieten mochte, etwas völlig Nutzloses oder Gefährliches.

Da kam ein altes Weiblein mit einem großen Bündel Reisig auf dem Rücken den Weg entlang. Die Alte trug so schwer an dem Bündel, dass sie dem Mädchen leidtat. Also bot es an, das Bündel für sie nach Hause zu tragen. Die Frau bedankte sich, lud flugs dem Mädchen das schwere Bündel auf und ging in so schnellem Tempo voran, dass das Mädchen sich sputen musste, um sie einzuholen.

Die Alte führte das Mädchen in den dunklen Wald, der schmale Pfad war im Dickicht kaum sichtbar. Und das Mädchen, schwer gebeugt unter der Last, stolperte häufig über Wurzeln und Äste. Nach einer Weile aber teilte sich der Wald und auf einer großen Lichtung mitten im Wald stand ein großes herrschaftliches Haus mit einem Turm an der linken Seite.

Als das Mädchen diesen Turm sah, durchfuhr sie plötzlich ein Schauer. Eine große Tür mit einem großen Türschloss blickte sie an. Es war, als zuckte der Schlüssel in ihrer Tasche, weil er nun endlich das Schloss gefunden hatte, zu dem er passte. Eilig warf das Mädchen das Bündel nieder, wo die Alte hindeutete. Dann entschuldigte es sich kurz und eilte zum Turm.

Mit zitternden Fingern zog das Mädchen den Schlüssel hervor. Vorsichtig näherte es den Schlüssel dem Schloss. Er passte. Mit einem satten Ton ließ er sich drehen. Das Mädchen hörte ein Klacken. Voller Ehrfurcht drückte sie die Klinke hinunter und die Tür schwang auf.
In dem Turm erwartete sie ein behagliches Wohnzimmer, der Kamin brannte, eine Kanne mit dampfendem Tee stand auf dem Tisch und der gute Duft von frisch geröstetem Toastbrot drang dem Mädchen in die Nase.

Zögernd trat das Mädchen ein. Sie wagte kaum, etwas zu berühren. Voller Ehrfurcht betrachtete sie die hohen Bücherregale an den Wänden, die Gemälde, Teppiche, Möbel und Lampen. Linker Hand führte eine Treppe in das nächste Stockwerk. Dort gab es eine Küche. Auch dort war alles ordentlich und frisch, als hätte gerade jemand den Raum verlassen.
Also stieg das Mädchen noch eine Etage höher. Dort fand sie das Schlafzimmer. Ein großes Bett mit Baldachin, eine schwere Truhe mit Kleidung. Die schienen alle die Größe des Mädchens zu haben. Verwirrt schaute sich das Mädchen um. Plötzlich stand die alte Frau im Zimmer.

„Wem gehört das hier alles?“, fragte das Mädchen.

„Dir. natürlich“, sagte die Alte. „Du hast den Schlüssel“.

„Aber“, stammelte das Mädchen.

Da schüttelte die Alte den Kopf. „Weißt du denn nicht, dass alles für dich bereitet ist und nur auf dich wartet? Wo warst du solange?“

„Ich wusste doch nicht, wo der Schlüssel passt. Ich habe gesucht.“

Da schüttelte die Alte noch einmal den Kopf. „Na, jetzt bist du ja da!“

21. Juni – Knapp vorbei ist auch nah dran

Benni hasste Ballspiele jeglicher Art. Ob die nun mit großen Bällen wie Fußball, Basketball oder Volleyball gespielt wurden oder mit kleinen und kleinsten wie Tennis und Tischtennis. Er hatte einfach keine Chance. Aus irgendeinem dummen Grund war seine Koordination so unterentwickelt, dass er eben immer nur fast traf aber niemals richtig, weder das Tor, noch in den Korb, geschweige denn über das Netz. Schläger waren noch schlimmer. Wenn er mit dem Schläger überhaupt den Ball traf, dann flog der bestimmt nicht dahin, wo er sollte, sondern irgendwo hinter Benni oder aufs Garagendach.

Das löste bei seinen Eltern unterschiedliche Verhaltensmuster aus. Seine Mutter beugte sich tröstend über ihn und sagte: „Knapp vorbei ist auch nah dran. Das ist doch schon ganz gut. Das nächste Mal klappt’s bestimmt!“

Sein Vater aber sah sich in der Pflicht, dem ungeschickten Sohn endlich beizubringen, wie das richtig ging. Also pflasterte er den Rasen hinter dem Haus mit Fußballtor, Basketballkorb und einem Volleyballnetz. Das konnte man niedrig hängen und wenigsten Softball spielen, wenn es auch für echtes Tennis nicht reichte. Auch für Tischtennis hatte der Papa gesorgt, die Platte stand im Keller. So konnte Benni noch nicht einmal bei schlechtem Wetter auf eine Pause hoffen.

Obwohl sich keinerlei Besserung in Bennis Spiel einstellte, weigerte sich Bennis Vater, aufzugeben. Jeden Abend und jedes Wochenende nötigte er den immer bockiger werdenden Benni auf den Rasen. Schließlich brüllte Benni nur noch: „Ich will nicht, ich will nicht!“ Der Ball konnte ihm ruhig gegen den Kopf oder den Körper prallen, dann ließ er sich einfach fallen und betrachtete die Wolken. Bis sein Vater zu ihm kam und die Sicht verdeckte. „Ich will nicht!“, sagte Benni.

Also ließ Bennis Vater die Schultern hängen, trottete ins Haus und murmelte: „Dann eben morgen. Wäre doch gelacht.“ Aber aus morgen wurde übermorgen und überübermorgen. Benni machte einfach nicht mehr mit. Und sein Vater musste sich geschlagen geben. Er war noch nicht einmal mehr fähig das Tor, den Korb und das Volleyballnetz abzubauen, so enttäuscht war er.

Als Benni Geburtstag feierte, lud er seine Klassenkameraden ein. Die fanden das richtig toll in Bennis Garten. Vor allem konnte man prima Fußball spielen, wenn das blöde Volleyballnetz beiseite geräumt war. Also kickten die Jungs ein bisschen. Benni baten sie, sich ins Tor zu stellen. Den ganzen Tag gelang es seinen Klassenkameraden nicht, auch nur einen einzigen Ball ins Tor zu bekommen. Benni hielt den Kasten sauber.

Als am Abend sein Vater von der Arbeit nach Hause kam, traute er seinen Augen kaum. Benni spielte Fußball! Freiwillig! Und machte es auch noch gut! Da kam seine Frau zu ihm, legte tröstend ihren Arm um seine Schulter und sagte: „Knapp vorbei ist auch nah dran. Hab’ ich doch gleich gesagt, dass es das nächste Mal klappt.“

20. Juni – Einmal Karma und zurück

Gemeinhin wird Karma überschätzt. Die meisten schwärmen zwar davon, fühlen sich auch irgendwie ganz geläutert, wenn sie zurück sind. Aber für mich, ehrlich gesagt, ist das nichts.

Selbstverständlich kenne ich auch die Plakate und die Werbefilme, aber das allein hätte mich nicht dazu gebracht dieses sehr preisgünstige Last-Minute-Angebot nach Karma in Anspruch zu nehmen. Eher, würde ich sagen, waren es die enthusiastischen Schilderungen meiner Freundinnen. Die sagten, sie fühlten sich jetzt so rein und auch sehr viel schlauer als vorher. Und ein unvergessliches Erlebnis sei es auch gewesen.

Natürlich, als unvergesslich würde ich mein Erlebnis auch bezeichnen. Allein schon diese irre Talfahrt ins gleißende Licht nach dem ewigen Rumgehänge in so einem Vorbereitungsraum. Es ging dann schon gleich los, anstatt meiner Betreuerin an die Brust gelegt zu werden, wurde ich sofort entführt und in so einen Kasten gesteckt, da war es sehr warm aber auch elend einsam.

Das hatten die wahrscheinlich im Kleingedruckten erwähnt, dass es auch richtig mieses Karma geben kann. Irgendwie erinnere ich mich auch dunkel, dass da so irgendetwas stand, von wegen „die Ursachen entfalten jetzt ihre Wirkung“, oder so ähnlich. Na, muss ich das verstehen? Bei einem eben mal schnell gebuchten Last-Minute-Trip? Eben!

So fing das an. Später kam ich dann doch wieder zu meiner Betreuerin, die bestand darauf, dass ich sie Mama nenne, also tat ich ihr den Gefallen – allerdings erst viel später. Denn lachhafterweise konnte ich weder sprechen noch herumgehen. Ich war ganz auf die freundliche Hilfe meiner Betreuerin angewiesen.

Die schleppte mich zu sich nach Hause, da traf ich noch so ein paar arme Reisende, die nicht recht wussten, wie ihnen geschah. Ein paar Jahre Erfahrung hatten sie mir dennoch voraus. Also hielt ich mich erst einmal an ihre Ratschläge.

Von der Reiseleitung weit und breit keine Spur. Ich konnte mich also noch nicht einmal beschweren. Das war schon sehr ärgerlich. Vor allem als das so richtig losging mit den unangenehmen Erlebnissen. Zähne bekommen, ständig Umfallen beim Laufen lernen, ständige Konfrontation mit mies gelauntem, männlichem Hausgenossen, der in irgendeiner nicht genau zu ergründenden Beziehung zu meiner Betreuerin stand.

Dann natürlich Streit mit den anderen Reisenden, die dachten doch glatt, sie wüssten alles besser. Dann wurde ich in etwas geschickt, was sich Schule nannte, ganze neun Jahre musste ich da zubringen! Und dann die Komplikationen mit den anderen Schulbesuchern. Da gab es nämlich männliche und weibliche Kategorie. Bis ich da erst einmal dahinter kam, dauerte es ein paar Jahre.

Als ich dann aber entdeckte, dass die weibliche Kategorie echt voll blöde war, weil ich dann angeblich immer mit Puppen spielen sollte und nicht mit Autos einen Verkehrsunfall nachstellen durfte. Außerdem sollte ich nicht auf Bäume klettern, keine Jungs verhauen und überhaupt mein Licht ständig unter den Scheffel stellen, damit die Jungs sich nicht benachteiligt fühlen, sondern groß und stark und heldenhaft.

Da dachte ich doch, irgendwas ist hier echt schief gelaufen mit meinem Trip nach Karma. Und gerade habe ich auf meinem Ticket gesehen, dass die Rückreise in frühestens 54 Jahren anzutreten ist. Was mir da wohl noch alles bevorsteht? Aber eins weiß ich genau, wenn ich zu Hause bin, da schwärme ich den Daheimgebliebenen auch was vor, wie toll das hier ist. Ich sehe doch nicht ein, dass ich die Einzige bin, die auf diese falschen Empfehlungen reingefallen ist.

19. Juli – Lilien

Lilien – grün und weiß. Wachsen wo? In der Nähe von Gewässern vielleicht. Als altes Stadtkind kenne ich die meisten Blumen, Pflanzen, Obstsorten nur aus Geschäften. Geordnet, genormt, ins beste Licht gerückt. Weiße Lilie – Trauerblume.

Warum eigentlich? Wächst sie nicht genauso wie die Rose, die Tulpe oder das Gänseblümchen aus der Erde mit Sonnenschein, Wasser und Mineralien als Nahrung?

Im Sommer, wenn die Straßen staubig werden und die Hitze mich zur Langsamkeit zwingt, dann säße ich gerne im Kelch einer Lilie, leicht beschattet, ein paar Wassertropfen perlen an der glatten Blütenwand. Über mir nichts als Himmel und Wolken und ab und zu eine brummende Hummel, die Blütenstaub von Blüte zu Blüte trägt. Also ehrlich, falls Lilien durch Hummeln bestäubt werden.

Natur ist mir so fern, darum kann ich auch gefahrlos davon träumen, inmitten von ihr zu entspannen.

18. Juni – Das Malbuch und das kleine Mädchen

„Kann ich helfen?“ Julia beugt sich über das kleine Mädchen, das am Boden sitzt und in einem Malbuch herumkritzelt. Ein unbezahltes Malbuch, mitten im Laden, auf dem Fußboden, die Stifte stammen auch von hier und sind genauso wenig bezahlt.

„Wo ist denn deine Mutti?“

Julia versucht, freundlich zu bleiben. Das Kind kann doch nichts dafür. Aber wo sind die Eltern? Julia schaut suchend über die Verkaufstische und Displays. Niemand zu sehen. Die Buchhandlung ist plötzlich wie leergefegt.

„Wie heißt du denn?“

Das Kind sagt kein Wort, schaut Julia nur mit großen Augen an, bevor es sich wieder über das Malbuch beugt und ungeschickt den Himmel knallrot anmalt. Das gibt es doch nicht. Wer lässt denn einfach sein Kind hier zurück? Die Kleine ist höchstens drei.

„Den Himmel musst du aber blau machen!“

Wieder schaut das Mädchen mit großen Augen zu Julia hoch, blickt sie kurz mit einem strahlenden Lächeln an und kritzelt weiter einen blutroten Himmel über einem noch nicht ausgemalten Karussell.

In einer halben Stunde schließt Julia den Laden.

Bis dahin muss das Kind verschwunden sein.

Unruhig geht sie im Laden auf und ab, schaut in jede Ecke, sogar unter die Verkaufstische. Vielleicht ist die Mutter ohnmächtig geworden und liegt jetzt unter den aufgestapelten Aktionswaren. Aber nein, niemand da. Es ist wie verhext. Kein einziger Kunde betritt mehr die Buchhandlung.

Julia steht an der Tür und schaut die Straße entlang. Irgendwo muss doch die Mutter sein. Julia sieht aber nur die alte Schawitzki von gegenüber mit ihrem Hund Poldi Gassi gehen. Ein paar Jugendliche drücken sich an der Ecke vor der Spielhalle herum. Niemand weit und breit, der zu dem Kind gehören könnte.

Eigentlich müsste Julia jetzt nach Hause, aber was macht sie dann mit dem Kind? Vermutlich sollte sie die Polizei rufen. Sie schließt von innen die Tür ab, geht zum Telefon.
Die Kleine malt immer noch. Die Sonne in ihrem tiefroten Himmel ist schwarz.

Das ist doch sicher kein gutes Zeichen, wenn das Kind den Himmel blutrot malt und die Sonne schwarz. Außerdem müsste sie längst sprechen können.

Natürlich, Julia ist keine Psychologin, aber das hat sie ja schon oft genug im Fernsehen gesehen. Wahrscheinlich wird die Kleine misshandelt. Julia wählt Eins Eins Null. Freizeichen.
In dem Moment schaut die Kleine wieder zu ihr hoch und sagt: „Mama!“

Julia zuckt zusammen.

Das arme Kind. Sie kann sie doch nicht einfach der Polizei ausliefern. Sie legt auf.

„Gut, dann nehme ich dich eben mit!“, sagt sie zu dem Mädchen.