16. Mai – Auf der Suche nach dem ICH

Auf der Suche nach dem ICH. „Von Natur aus gehörst du auf jeden Fall zu den Einfältigen! Das sieht ein jeder“, der Professor zog mir am Ohr und schaute mit seinem Apparat hinein. „Mmh, mmh“, sagte er dann. „Es ist auch eindeutig, dass da eine Spur, aber nur eine Spur, Weisheit und Güte zu finden sind Tja, interessante Mischung.“

Er ließ mich den Mund öffnen und „Ahhh“ sagen. Der Holzspatel fühlte sich merkwürdig rauh auf meiner Zunge an.

Dann warf der Professor den Spatel in den Müll und tastete meinen Hals ab.

„Mmh, mmh“, hörte ich ihn nur noch in sich hineinbrummen. Also fasste ich mich in Geduld. Irgendwann würde er sicher zu einem Ergebnis kommen und ich wüsste endlich, wer ich wirklich bin.

Schon lange versuchte ich, diese Frage zu beantworten.

Ich hatte in meinen Personalausweis gesehen.

Ich hatte meine Eltern gefragt, meine Geschwister und meine Freunde, schließlich sogar meine Feinde.

Danach war ich so ratlos wie nie zuvor.

Mein Vater sagte, ich sei eine verzogene Göre, der er rechtzeitig Zucht und Ordnung beigebracht hätte, wenn er mal zu Hause gewesen wäre.

Meine Mutter meinte, ich sei ein liebes Mädchen, das ein wenig zu sehr im Wolkenkuckucksheim schwebe, aber sonst sehr umgänglich und hilfsbereit.

Mein Bruder sagte, ich sei eine elende Nervensäge gewesen, solange wir noch Kinder waren. Aber inzwischen könne er mich gut leiden.

Meine Schwester habe mich gehasst, weil ich so ein Chaot sei, nie könne ich Ordnung halten, auf meinem Schreibtisch hätten sich immer die Schulsachen und Bücher und Schreibpapiere gestapelt. Aber auch sie könne mich inzwischen gut leiden. Was ich auf meinem Schreibtisch veranstalte, interessiere sie ja nicht mehr.

Meine Freunde sagten, ich sei eine gute Zuhörerin und immer für sie da.
Meine Feinde sagten, ich sei eine blöde Ziege, die arrogant und unfreundlich sei und nicht, bis drei zählen könne.

Und ich selbst?

Tja, ich schaute mir selbst zu, war mal blöde Ziege, mal gute Zuhörerin, Chaotin, Nervensäge, liebes Mädchen, verzogene Göre und noch tausenderlei mehr.

Was davon war nun das berühmte ICH, von dem immer alle sprachen.

So kam ich auf die Idee, einen Professor zu fragen.

Der müsse so etwas ja wissen, dachte ich mir. Und deshalb stand ich jetzt frierend in meiner Unterwäsche und harrte der Beurteilung.

„Mmh, mmh“-Professor Bartelberg war mit seiner Untersuchung inzwischen am Ende angelangt und schnarrte: „Du kannst Dich wieder anziehen.“

Als ich aus der Kabine zurückkehrte, war der Professor verschwunden. Nur sein Assistent wartete noch auf mich.

Was denn nun mit dem Ergebnis sei, fragte ich.

„Wird zugeschickt“, kam es lapidar zurück.

Und nun warte ich.

Vielleicht rufe ich inzwischen die Auskunft an.

Vielleicht wissen die ja, wer ich bin.