17. Mai – Mein Leben in der Provinz

Vor fast fünfzehn Jahren hat mich die Liebe aus der großen Stadt in ein kleines Nest am Rande von nirgendwo geführt und dort festgehalten. Für mich als Stadtmensch war es natürlich ein übler Kulturschock mich plötzlich mitten in der so genannten Provinz zu finden. Aber, meine geneigten Leser, Sie werden feststellen, dass so ein Leben in der Provinz nicht nur mit Entbehrungen verbunden ist. Aber es bedurfte natürlich einer gewissen Eingewöhnungszeit, bevor ein Zugezogener wie ich, von den Ur-Einwohnern akzeptiert wurde. Im letzten Jahr hatte ich langsam den Eindruck, es könnte so weit sein. Aber wahrscheinlich verdanke ich diese letztendlich doch freundliche Aufnahme allein dem Umstand, dass ich der Ehemann einer Eingeborenen geworden bin.

Als ich in Walden ankam, um meine Liebste das erste Mal zu besuchen, beging ich sofort einen nahezu unverzeihlichen Fehler. Ich parkte mein Auto beim Nachbarn gegenüber vor der Tür. Das tut man nicht! Ganz anders als in der großen Stadt, wo ich gewohnt war, überall dort zu parken, wo gerade Platz ist – auch mal in zweiter Reihe, mitten auf dem Bürgersteig oder direkt an der Straßenecke, hat mich das Überangebot an freiem Platz derart verwirrt, dass ich einfach in Fahrtrichtung rechts gegenüber dem Elternhaus meiner Liebsten geparkt habe.

Die Mutter meiner Liebsten verzieh mir zwar meine Unkenntnis, ließ sich aber nicht davon abhalten, mir umständlich zu erzählen, wie es sie verwundert hatte, dass dort beim Nachbarn ein unbekanntes Auto stand. Denn es war auch keines der Fahrzeuge, die üblicherweise beim Nachbarn stehen, wenn zum Beispiel seine Kinder zu Besuch kommen oder der Versicherungsvertreter, der die ganze Straße rauf und runter als Kundschaft hatte, außer dem Frantz Ludwig, der war bei der Allianz. Voller Verwunderung hatte sie mit ihrem Mann diskutiert, wessen Fahrzeug es wohl sein könne, bis sie schließlich darauf kamen, dass es sich wohl um mein Auto gehandelt habe und ich mich ja ganz falsch hingestellt hatte. Nun strahlte mich meine Schwiegermutter in spe zufrieden an. Ich wagte es nie wieder, mein Auto vor dem Haus des Nachbarn zu parken.

In den Anfangszeiten verbrachte ich nur die Wochenenden bei meiner Liebsten. Es war immer ein sehr weiter Weg von der Stadt nach Walden. Ab und zu vergaß ich zu Hause irgendeine wichtige Kleinigkeit und musste mir dann von den Eltern meiner Liebsten aushelfen lassen. Allerdings war das auch bei den unmöglichsten Utensilien kein Problem. Der Vater meiner Liebsten schien so ziemlich alles, was man jemals gebraucht hat oder brauchen könnte, in seiner Doppelgarage oder auf dem Dachboden oder im Gartenhäuschen aufzubewahren. Dennoch kam einmal der Tag, als der Keilriemen meines Autos riss und ich dringend einen neuen brauchte. Es gab in Walden natürlich auch eine Art Mechaniker namens „Biene“. Der hatte zwar keine Werkstatt, sondern arbeitete in seiner Scheune, aber er wurde mir als derjenige benannt, der alle Autoersatzteile führe oder doch in kürzester Zeit beschaffen könne. Ich bat also meine Schwiegereltern in spe darum, mir den Weg zu beschreiben.

„Ach, das ist ganz einfach. Du gehst erst mal die Straße runter und dann an der Ecke, wo der Schreiber Lennart früher gewohnt hat – da wohnt jetzt glaub ich der Enkel vom Marie – der Lutz oder Fritz, der beim VW schafft und die Modellflugzeuge baut“

„Nein“ fällt der Papa der Mama ins Wort, „da wohnt doch jetzt der Lumpi, der Sohn von der Hanni, jedenfalls gehste an der Ecke rechts rein. Und dann, wo der Henner Schorsch seinen Garten hat, da gibt’s einen Fußweg. Da geht’s den Berg runner. Beim Danzer Karl gehste links und dann ist es das dritte Haus mit der großen Scheune, direkt neben dem Haus vom Lisbeth.“
„Könnt ihr mir nicht die Straße und Hausnummer sagen?“, wagte ich, zu fragen, und erntete verständnislose Blicke. Straßenschilder sind hier nur für die Auswärtigen angebracht, kein Eingeborener beachtet sie. Ich ließ mich schließlich von meiner liebsten zu „Biene“ führen, von dem ich bis heute nicht weiß, wie er eigentlich mit richtigem Namen heißt. Aber er war mein Retter in der Not und kramte aus seinem unerschöpflichen Vorrat an Ersatzteilen tatsächlich einen passenden Keilriemen hervor. Den zu montieren übernahm dann mein Schwiegervater in spe gemeinsam mit meiner Liebsten. Die bastelte in ihrer Freizeit sowieso gerne an Autos. Ich hatte so was bisher nur irgendwelche Automechaniker erledigen lassen und war für die Hilfestellung sehr dankbar.

Allerdings erschien ich in den Augen des Vaters meiner Freundin nach dieser Episode nicht mehr als so besonders gute Partie. Aber meine Liebste verteidigte mich nach Kräften. Ich sei nun mal ein Stadtkind, da liefe eben alles etwas anders ab. Mit dem Seufzer „er is halt aus der Stadt“ wurde in Zukunft jegliches Fehlverhalten von mir entschuldigt.

Den nächsten, größeren Fauxpas erlaubte ich mir, als meine Liebste und ich bereits zusammengezogen waren. Ich hatte Geburtstag und alle meine Freunde zu einer Feier eingeladen. Es gab statt einer Torte selbst gemachte Windbeutel mit Sahne und frischen Erdbeeren. Da ich ein paar mehr gemacht hatte, kam ich auf die Idee, meinen Quasi-Schwiegereltern zum Kaffee ein paar Windbeutel vorbei zubringen. Völlig unschuldig erzählte ich von meiner Geburtstagsparty und dass ich ihnen ein paar Windbeutel zum Kosten rein reichen wollte. Die wurden auch dankend entgegengenommen. Ich bemerkte nichts Übles. Aber später erzählte mir meine Liebste, ihre Eltern seien tödlich beleidigt gewesen, weil ich sie nicht zu meiner Party eingeladen hatte.

Ich fiel aus allen Wolken. Wer um Himmelswillen lädt denn bitteschön seine Eltern oder Schwiegereltern oder womöglich noch Oma und Opa zu seiner Geburtstagsfete ein? Tja, in Walden tut das jeder. Hier mussten zur Geburtstagsparty auch des pubertierendsten Teenagers auf jeden Fall Oma und Opa sowie die Godel – die Patentante – und auch alle weiteren Tanten und Onkel und sogar Nachbarn eingeladen werden. Natürlich auch ein paar Freunde des Jugendlichen. Manche Leute feiern zweimal, damit die unterschiedlichen Interessen der Gäste nicht allzu sehr kollidieren. Aber es darf niemals – ich wiederhole niemals – darauf verzichtet werden die gesamte Sippschaft zum Geburtstag einzuladen.

Seither feiere ich offiziell keinen Geburtstag mehr. Meine Freunde lade ich natürlich ein, aber sicherheitshalber in eine Kneipe in der nächsten, größeren Gemeinde. Hier verirrt sich selten ein Waldener hin. Und meine Liebste verrät mich zum Glück nicht, sie feiert inzwischen auch keinen Geburtstag mehr.