7. Mai – Wege der Erleuchtung

Jürgen suchte Erleuchtung. Er hatte am Meditationszentrum mitgebaut und er meditierte inzwischen jeden Morgen und jeden Abend mindestens eine Stunde lang. Natürlich war er Vegetarier. Die meisten Wochenenden verbrachte er im Meditationszentrum und belegte Kurse oder machte ein Retreat. Manchmal hielt er abends selbst Vorträge. Mit anderen Worten er war selten zu Hause.

Seine Frau Dagmar hatte sich inzwischen damit abgefunden, dass Jürgen unbedingt erleuchtet werden wollte. Und sie wusste, dass er längst davon träumte einen echten langjährigen Retreat mitzumachen. Irgendwo auf einem Berg in einer abgelegenen Hütte nichts weiter zu tun, als zu meditieren. Dagmar verstand nicht so sehr viel von diesem ganzen spirituellen Kram.

Aber sie fand Jürgen ziemlich egoistisch und wusste nicht, was das alles mit Erleuchtung zu tun haben sollte, wenn er seine Familie im Stich ließ, wenn er es Dagmar überließ, sich um die Kinder zu kümmern und für das nötige Kleingeld zu sorgen.

Natürlich hatte Jürgen keine Zeit, sich um solche profane Dinge wie Arbeit oder Familie zu kümmern. Er beschäftigte sich lieber damit sich in bedingungsloser Liebe zu allen Wesenheiten zu üben. Dagmar fand, dass irgendetwas nicht stimmen konnte, an dieser Lebensweise, wenn diese Übungen dazu führten, dass die Liebe zu ihr und zu ihren gemeinsamen Kindern darüber längst erloschen war.

Auch wenn Jürgen in seiner Familie kein besonders großes Ansehen genoss, so war dies in der spirituellen Gemeinschaft im Meditationszentrum doch ganz anders. Und viele hielten ihn für jemanden, der auf dem Pfad der Erleuchtung bereits weit vorangeschritten war.
Aber dann geschah eines Tages etwas Merkwürdiges. Ein Mann tauchte im Zentrum auf. Er wirkte ein bisschen schmuddelig in seinen dunklen Jeans, den schweren Stiefeln und der schwarzen Lederjacke. Seine Haare waren einmal schwarz gewesen und nun mit einigen grauen Strähnen durchzogen.

Als er ins Zentrum kam, nickte er den Leuten, die vor der Meditationsstunde draußen zusammenstanden und gewichtige Unterhaltungen führten kurz zu. Dann ging er als Erster in den Andachtsraum ohne sich die Stiefel auszuziehen und setzte sich nach vorn auf das auf einem Podest etwas erhöht liegende Meditationskissen.

Jürgen sollte die heutige Abendmeditation anleiten. Aber als er auf den Mann zuging, noch unentschlossen, wie er ihn vertreiben könnte, schlug der bereits die Klangschale an. Die anderen strömten in den Raum, schauten zwar verdutzt und unsicher von Jürgen zu dem Unbekannten. Aber schließlich setzten sich alle auf ihre Kissen und fielen in die einleitende Rezitation mit ein.

Nur Jürgen stand noch, fühlte sich etwas verloren. Da schaute ihn der unbekannte Mann durchdringend an. Und obwohl ihm kein einziges Wort über die Lippen kam, hatte Jürgen das Gefühl, seine Stimme ganz deutlich in seinem Kopf zu hören.

Und diese Stimme sagte ihm: „Jürgen, geh’ nach Hause. Du findest keine Erleuchtung, indem Du Dich vor dem Leben und vor der Liebe und vor der Verantwortung versteckst.“

„Aber…“ Jürgen stand der Mund offen, seine Arme hingen hilflos hinab. Er schaute fassungslos von dem Unbekannten zu den Meditierenden am Boden.

„Geh!“, sagte die Stimme noch einmal und da setzte sich Jürgen langsam in Bewegung und ging nach Hause.

6. Mai – Königin

Es war einmal eine Königin, die hatte drei Töchter. Die älteste Tochter hieß Helena und war klug und schön. Sie konnte acht Sprachen fließend sprechen, spielte Klavier und malte kraftvolle Ölgemälde. Die mittlere Tochter hieß Daphne und war fein und zart. Sie konnte siebzehn Teesorten mit verbundenen Augen allein am Duft auseinanderhalten, sie spielte Harfe und bemalte zerbrechliches Porzellan. Die jüngste hieß Diana und war clever und stark. Sie konnte Motocross fahren, spielte E-Gitarre und schweißte Skulpturen aus Altmetall.

Die Königin liebte alle ihre Töchter und so wusste sie auch nicht, welcher Tochter sie nach ihrer Abdankung das Reich überlassen sollte. Sie überlegte hin und überlegte her. Schließlich gab sie den Mädchen eine Aufgabe.

Weit, weit fort in einem fremden Reich gab es einen hohen, hohen Berg. An dessen Flanke stand ein verwunschenes Schloss. Dort gelangte nur hin, wer vorher durch einen finsteren Wald und über einen tiefen See kam. In dem verwunschenen Schloss aber gab es einen Zauberer, der bewachte eine große, schwarze Truhe, in der sich eine Glaskugel befand, mit der man in die Zukunft sehen konnte. Und welche der Töchter ihr diese Glaskugel schaffen könne, die sollte Königin werden.

Da rüsteten sich die drei Töchter, um den Auftrag der Mutter zu erfüllen. Zuerst ging Helena, besser gesagt, sie nahm die königliche Reiselimousine samt Fahrer. Die Limousine hatte ein hervorragendes Navigationssystem, so gelangten sie an den Rand des finsteren Waldes. Dort gab es aber keine Straße, die hindurch führte, nur Waldwege, die voller Schlamm und Dreck waren.

Da überlegte die kluge Helena eine Weile und rief dann ihre jüngste Schwester an. Sie solle doch mal schnell mit dem Motorrad kommen, denn allein käme sie nicht durch den Wald.
„Klar, kein Problem“, rief Diana, packte ein paar Kleinigkeiten zusammen und brauste auf ihrem Motorrad zu Helena. Die schwang sich hinter ihrer Schwester auf das Gefährt. So fanden sie einen Weg durch den Wald und gelangten an das Ufer des tiefen Sees. Der war so kalt, dass er unmöglich zu durchschwimmen war.

Da überlegten Helena und Diana eine Weile und schließlich riefen sie Daphne an, sie solle doch mit dem Luftschiff kommen und sie abholen, damit könnten sie bestimmt bis zum Schloss gelangen.

„Klar, kein Problem“, rief Daphne und flog mit dem Luftschiff über den Wald, sammelte am Ufer des Sees ihre beiden Schwestern ein und nur eine Tasse Tee später waren sie bereits auf dem Schlosshof gelandet. Der Zauberer erwartete sie bereits.

„Ich weiß, was Ihr von mir wollt! Aber ich werde Euch die Glaskugel nur geben, wenn ihr bei mir arbeitet und ich mit Euch zufrieden bin.“

Da steckten die drei Schwestern die Köpfe zusammen.

Schließlich wandte sich Helena an den Zauberer: „Na, wenn es nicht anders geht. Was sollen wir machen.“

Da kratzte sich der Zauberer am Kopf. Er hatte nur mit einer Tochter auf einmal gerechnet und die Arbeit war gar nicht zahlreich genug für drei. So hatten die Mädchen doch sofort alles im Handumdrehen erledigt.

„Also“, sagte er, „Ihr müsst mir Frühstück, Mittag und Abendbrot bereiten, außerdem wünsche ich morgens um 10 Uhr eine Jause und nachmittags um 17 Uhr einen Tee mit Gebäck. Und dann müsste Ihr das Feuerholz hacken, die Böden wischen, die Tiere in den Ställen versorgen, alles aufräumen, putzen und meine Bibliothek sortieren. Abends verlange ich wunderschöne musikalische Darbietungen und am Freitag gibt es ein Fest, zu dem alle meine Kollegen von der Zauberegilde eingeladen sind. Da verlange ich ein Festmahl und ein herausragendes Showprogramm.“

Die Schwestern schauten sich an. Das artete ja in Arbeit aus.

Aber dann krempelten sie die Ärmel hoch und legten los.

Die Älteste kümmerte sich um die Bibliothek, die Mittlere kümmerte sich um die Küche, die Jüngste um Feuerholz und Ställe. Putzen und Aufräumen erledigten sie alles zusammen und abends Musik machten sie auch zusammen. Der Zauberer war sehr zufrieden, versuchte aber, sich das nicht anmerken zu lassen.

Aber so gemütlich hatte er es in seinem ollen verwunschenen Schloss noch nie gehabt.
Am Freitag brauste es in der Luft und die Zauberer kamen auf ihren Besen angeritten, um so ein richtig gelungenes magisches Fest abzuhalten. Und die drei Töchter hatten sich mächtig ins Zeug gelegt, nicht nur, dass sie alles blitzeblank gewienert hatten, sich die Tische von leckerem Essen bogen, nein, sie sorgten auch noch für ein einzigartiges Unterhaltungsprogramm.

Diana jonglierte mit brennenden Fackeln und laufender Kettensäge.
Daphne spielte Harfe und sang dazu so herzzerreißend traurige Lieder, dass alle Zauberer weinten und ins Tischtuch schnäuzen mussten.

Und Helena organisierte einen zünftigen Tanz, um alle wieder fröhlich zu stimmen.
Alle Zauberer waren begeistert und sich einig, dass sie noch niemals so ein schönes Fest erlebt hatten. Da konnte der alte Zauberer nicht anders, er stieg in sein Verlies hinab, schloss die Truhe auf und übergab den Mädchen die Glaskugel, mit der man die Zukunft sehen konnte.

Da verabschiedeten sich die drei, stiegen in ihr Luftschiff und fuhren nach Hause. Dort wartete ihre Mutter, die Königin, bereits gespannt. Als ihre Töchter ihr dann aber erzählten, dass sie alle drei gemeinsam die Glaskugel errungen hatten, verzweifelte sie fast. Nun war sie ja genauso weit wie zuvor.

Aber dann schlug sie sich mit der flachen Hand vor die Stirn.

„Ich bin ja auch blöd!“, rief sie. „Weil Ihr Drei so hervorragend zusammenarbeiten könnt, mache ich Euch alle Drei zu Königinnen, das wird das beste sein.“

Da lachten die Mädchen und freuten sich. Und so regierten sie glücklich und zufrieden das Reich, bis sie die konstitutionelle Demokratie einführten und sich aufs Repräsentieren konzentrieren konnten.

Die Glaskugel liegt heute noch irgendwo im Schloss in einer alten Truhe. Keine von den Schwestern hat sie jemals benutzt. Schließlich gibt es eine ganz einfache Methode zu sehen, was die Zukunft bringt: Es erleben.

5. Mai – Erkenntnisse aus der Vorzeit

Erkenntnisse aus der Vorzeit. Hurra, die Kreationisten haben doch Recht, zumindest halb. Heute habe ich es gesehen, im Fernsehen, auf Arte. In einer Dokumentation über die Höhlenmalerei der Steinzeit wurde mir klar, damals kann es noch keine Frauen gegeben haben. Nein, nein, auf gar keinen Fall.

Erstens wurden die Malereien allesamt nur von Männern an die Wand gepinselt bzw. gesprotzt, wie ich Farbe an die Wand spucken bzw. aus dem Mund an die Wand sprühen, jetzt mal laienhaft nennen würde. In der Dokumentation war nämlich beständig nur von den Künstlern, den Jägern, den Schamanen und dem Meister mit seinem Gehilfen die Rede.
Zweitens wurden von den Herren der Steinzeit laut Ansicht der Forscher keinerlei weiblichen Wesen abgebildet, nur Wisente, Wildpferde, Löwen und Strichmännchen mit Stier- oder Vogelköpfen, die selbstverständlich Schamanen darstellen, die sich aus kultischen Gründen als Tier verkleidet haben.

Es machte mich zwar etwas stutzig, wie das denn nun gehen soll mit der Fortpflanzung ohne Damen.

Aber den Gehilfen hatte sich der Meister wahrscheinlich ausgeschwitzt oder durch spontane Zellteilung hervorgebracht, vielleicht auch aus Lehm gebacken.

Jedenfalls kamen die Damen der Schöpfung schlichtweg nicht vor.

Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Wenn es damals Frauen gegeben hätte, wo sind dann die in den Felsen gehauenen Schuhregale geblieben – ohne die angeblich keine Frau auskommen kann.

Solange die nicht entdeckt sind, steht mit absoluter Sicherheit fest: In der Steinzeit kann es keine Frauen gegeben haben.

Also, liebe Kreationisten, freut Euch. Die Urfrau muss also doch von Gott höchstpersönlich aus Adams Rippe erschaffen worden sein.

Und somit existiert der moderne Mensch – also die Frau – in Wahrheit erst seit knapp 10.000 Jahren.

4. Mai – Geburtstagsgeschichte

Geburtstagsgeschichte. Katinka hat Geburtstag und sie ist schon ganz früh wach. Mama schläft noch und auch die Katze, die sich am Fußende von Mamas Bett zusammengerollt hat. Katinka schaut auf die Uhr. Da steht eine Null und dann eine Fünf. Das ist bestimmt früh. Mama mag es nicht, wenn Katinka sie so früh aufweckt.

Aber das ist doch ungerecht. Heute hat Katinka schließlich Geburtstag. Also setzt sich Katinka ans Bett und stupst die Katze. Die hebt kurz den Kopf, reißt mächtig gähnend den Rachen auf, dass alles spitzen Zähne blitzen, dann dreht sie sich auf die andere Seite und schläft weiter.

Und jetzt? Katinka bummelt in die Küche. Mühsam macht sie den Kühlschrank auf. Keine Torte. Was Mama sich dabei wohl gedacht hat?

Vielleicht kann Katinka schon Kaffee kochen. Wenn der leckere Kaffeeduft in Mamas Zimmer strömt, dann wacht sie vielleicht auf. Aber dann fällt Katinka ein, dass Mama ihr verboten hat, noch einmal Kaffee zu kochen, weil sie das letzte Mal vergessen hat die Kanne wieder in die Maschine zu schieben und der ganze Kaffee auf die Arbeitsplatte getropft ist und sogar eine große Pfütze auf dem Boden gemacht hat.

Natürlich könnte Katinka es diesmal richtig machen. Aber wenn es nicht klappte, dann gab es Ärger. Und das wollte sie dann doch nicht. Ausgerechnet an ihrem Geburtstag. Also ging sie in ihr Zimmer zurück. Holte sich ihren großen Teddy zur Gesellschaft, malte eine große, wunderschöne Torte mit vielen bunten Kerzen auf ein Blatt Papier.

Dann schenkte sie Kaffee ein für Teddy und Kakao für sich selbst. Dann gab ihr Teddy ein Ständchen und Katinka blies die Kerzen aus. Die Torte schmeckte herrlich.

Danach war Katinka so satt, dass sie sich mit Teddy ins Bett kuschelte und fest einschlief.
Später am Morgen kam dann Mama herein und rief: „Aufstehen, Schlafmütze! Alles Liebe zum Geburtstag!“

Dann drückte sie Katinka und Teddy auch ein bisschen.

Katinka war sofort hellwach und stürmte in die Küche. Eine prächtige Torte mit lauter bunten Kerzen wartete auf dem Tisch.

3. Mai – Unpünktlichkeit

Kapitän Emerald schaute auf die Raumzeituhr. Wo blieb denn der erste Offizier? Bereits vor zwei Zeiteinheiten hätte er das Kommando übernehmen müssen. Emerald hasste Unpünktlichkeit.

Er gab den Rufbefehl ein, der dem ersten Offizier nun eine Nachricht aufs Helmdisplay sandte: „Sofort beim Kapitän melden“.

Ungeduldig trommelte Emerald mit den Fingern auf seinen Oberschenkel. Am liebsten wäre er auf und ab gelaufen, aber das ließen die beengten Räumlichkeiten auf dem Raumfrachter nicht zu.

Plötzlich blinkte eine Anzeige rot auf und ein akustisches Signal zeigte Druckverlust im Labor an.

„Verdammt!“ Emerald gab eilig ein paar Befehle ein und prüfte, ob die automatische Reparatureinheit anlief. Der Piepton verstummte und das rote Blinken ging in ein langsames orangenes über.

Nun rief Emerald den ersten Offizier akustisch.

Aber immer noch erhielt er keine Antwort.

„Wo steckt der Kerl bloß?“

Endlich öffnete sich die Luke zur Brücke und der Erste steckte zuerst vorsichtig den Kopf herein.

„Sorry, ging nicht schneller“.

Mühsam kämpfte er sich mit zwei dampfenden Bechern in der Hand herein.

„Hier!“ Er reichte dem Kapitän einen davon.

Der löste seinen Helm und kostete das Gebräu.

„Mmh. Das schmeckt schon fast wie echter Kaffee. Schade, dass wir keine Milch an Bord haben.“

2. Mai – Meine Oma, die Erfinderin

Meine Oma war eine berühmt-berüchtigte Erfinderin. Wenn ich bei ihr klingelte, rief sie durch die geschlossene Tür: „Holla, wer da?“

„Ich bin’s!“, rief ich sehr laut, um ihre Schwerhörigkeit zu übertönen. Schon drehte der Schlüssel im Schloss, die Tür wurde aufgerissen und Oma zerrte mich kurz die Straße hinauf und hinunter blickend hinein.

Hinter mir schlug sie die Tür laut zu und schloss wieder ab.

„Gut, dass Du da bist! Hast Du alles dabei?“

„Ja, ja“, beruhigte ich sie und ging voran in die Wohnküche, um meinen schweren Einkauf auf dem Tisch abzusetzen. Dann packte ich aus.

Je nachdem, was auf Omas Einkaufszettel gestanden hatte, konnten das neben den alltäglichen Haushaltswaren Drahtstifte und Häkelgarn sein oder Transistoren und Maschendraht. Denn Oma erfand ständig etwas.

Zum Beispiel die futterspendende Vogelscheuche oder einen automatischen Ostereiermalapparat. Und sie lebte in ständiger Angst, dass jemand ihre Erfindungen stehlen wollte. Nur mein unübersehbares Desinteresse an ihren Erfindungen erlaubte mir überhaupt noch Einlass in ihr Haus zu finden. Alle anderen Verwandten waren längst davongejagt und enterbt, weil sie sie als Spione und Diebe entlarvt hatte.

Wahrscheinlich hatten die anderen nur aus reiner Höflichkeit Interesse geheuchelt, das hatten sie jetzt davon. Erbschleicherei war sicher nicht der Grund. Oma war nämlich arm wie eine Kirchenmaus und die wöchentlichen Einkäufe bezahlte natürlich ich.

Irgendwann einmal wurde es immer schlimmer mit Oma. Sie hielt jetzt schon den Briefträger für einen Spion und hatte eine Fingerfalle in den Briefschlitz eingebaut. Daraufhin musste ich ihre Post zu mir umleiten lassen.

Aber dann kam der Tag, an dem sie auch mich nicht mehr hineinlassen wollte. Das ließ ich mir ein paar Tage gefallen. Schließlich flehte ich täglich vor ihrer Tür. Sie solle sich doch wenigstens die Lebensmittel hereinholen, die ich vor der Tür abstellte. Doch sie wollte nicht hören. Und irgendwann wusste ich mir nicht anders zu helfen und brach bei ihr ein.

Das war nicht so einfach, weil Oma überall Fallen aufgestellt hatte. Nur dass ich meine Oma und ihre Denkweise so gut kannte, bewahrte mich davor einen Fuß zu verlieren. Und so gelangte ich zu ihr, ohne mehr, als ein halbes Ohrläppchen einzubüßen.

Oma saß auf ihrem Lehnstuhl in der Küche und war derart geschwächt, dass sie noch nicht einmal mehr aufstehen konnte, um mich mit der Kohlenschippe in ihrer Hand anzugreifen. Sie bot einen schrecklichen Anblick und schimpfte wie ein Rohrspatz, als ich ihr die Kohlenschippe entwand und eine mitgebrachte Hühnerbrühe einflößte.

Das brachte sie so weit wieder zu sich, dass sie mich erkannte.

„Ach“, sagte sie da, „schön, dass Du mich besuchst. Hast Du das Kettenfett mitgebracht, um das ich Dich gebeten hatte?“

Nach dieser Episode gab mir Oma einen Schlüssel zu ihrem Haus und sie lebte bis zu ihrem friedlichen Tod noch ganze drei Jahre lang glücklich dort und erfand jeden Tag etwas Neues.

1. Mai – Die Frau vom Weihnachtsmann

Jag den Weihnachtsmann zum Teufel. Das ganze Jahr faulenzt der Typ und kaum ist Weihnachten, bekommst du ihn nicht mehr zu Gesicht. Es ist einfach völlig unmöglich, die Frau vom Weihnachtsmann zu sein. Außerdem wird es langsam Zeit, dass die Antidiskriminierung auch in der Märchenwelt Einzug hält. Wer braucht also einen Weihnachtsmann. Es könnte ja auch eine Weihnachtsfrau sein.

Liebe Frau vom Weihnachtsmann, mach dir keine Illusionen. Es wird auch dieses Jahr wie jedes sein.

Also, jag den Kerl zum Teufel! Der kann auch mal ein paar Geschenke brauchen.

30. April – Nichts als Mittelmaß

Georg schüttelte traurig den Kopf, als sein Blick über Leonies Zwischenzeugnis glitt. In Mathematik schon wieder eine Fünf und in Latein, Physik, Biologie und Sport eine Drei, in Kunst eine Eins, der Rest Zweien. Überall war seine Tochter nichts als Mittelmaß.

Außer natürlich in Mathe, da war sie schlecht. Trotz der teuren Nachhilfestunden. Vielleicht war das Gymnasium doch nicht das Richtige für das Kind. Wo war sie überhaupt wieder? Georg schaute in der ganzen Wohnung, keine Leonie. Aber die Malsachen fehlten. War sie also wieder draußen zum Zeichnen. Bei dem schönen Wetter kein Wunder. Nur war Leonie immer draußen, bei Regen, bei Schnee und bei Sonnenschein. Wenn Sie nur malen und zeichnen konnte, war sie glücklich.

Sicherlich, in Kunst hatte das Kind eine Eins. Die Lehrerin sprach von Talent und notwendiger Förderung. Aber wie sollte er dafür auch noch Geld aufbringen? Die Mathematiknachhilfe war schon teuer genug.

Und außerdem, was sollte Leonie den später mal damit machen? Künstler wurden doch meistens nicht berühmt und wenn waren das so selbstbewusste Showtypen, die sich in Szene setzen konnten. Auf die Qualität der Bilder kam es doch gar nicht an. Leonie war viel zu schüchtern. Obwohl ihre Mutter sie extra im Selbstbehauptungskurs angemeldet hatte.

Aber sogar dort hatte Leonie hauptsächlich gezeichnet. In schnellen Strichen festgehalten wie die Mädchen auf dick gepolsterte Schlaghandschuhe eindroschen. Wie sie auch in Rückenlage noch Zutreten und Kämpfen lernten. Die Zeichnungen waren wirklich gut. Aber Leonie sollte doch Selbstbehauptung lernen. Wie sollte sie denn so jemals in ihrem Leben zurechtkommen?

Georg hörte den Schlüssel in der Wohnungstür.

„Leonie“, rief er. „Was?“ „Komm mal her! Wo warst Du denn schon wieder? Malen? Stimmt’s? Hast Du schon Hausaufgaben gemacht?“

Leonie schüttelte den Kopf.

„Die mach’ ich gleich.“

„Nix da, gleich, sofort machst Du die!“

Anstatt wie sonst klein beizugeben, blieb Leonie vor ihrem Vater stehen.

„Nein, zuerst ordne ich meine Skizzen und arbeite weiter an meinem Gemälde. Endlich weiß ich, wie das Licht fallen muss.“

Einen Augenblick war Georg sprachlos. Dann holte er tief Luft.

Aber Leonie kam ihm zuvor: „Ich mache die Aufgaben danach, versprochen. Und Mathenachhilfe brauche ich auch nicht mehr. Die Svenja aus dem Selbstbehauptungskurs kann mir das viel besser beibringen. Die kommt dann Morgennachmittag.“Leonie drehte sich auf dem Absatz um und verschwand in ihrem Zimmer.

29. April – Anleitung zum richtig Aberglauben

Hier eine Anleitung zum richtig Aberglauben. Beachten Sie bitte die Vorsichts- und Sicherheitsmaßnahmen: Bei Neumond draußen im Wald drei Mal über die Schulter gespuckt und fort sind die Warzen. Nur keiner schwarzen Katze erlauben sich von links zu nähern.

Niemals unter einer Leiter hindurchgehen und die glückbringenden Hufeisen immer über die linke Schulter werfen. Niemals, nie und nie über die rechte.

Und dann nicht die eigenen Hände betrachten und nicht pfeifen, um später immer genug Geld zu haben.

Keine Kröte anfassen, unter keinen Umständen. Niemals den grünen Strunk von Tomaten mitessen. Das ist doch alles giftig.

Und wenn es aus der Yuccapalme klopft, bitte nicht nachsehen, lieber gleich vor die Tür stellen das Ding, soll sich ein anderer mit der schrecklichen Spinne abgeben, die dort unweigerlich bald herauskriechen wird.

Immer viel Scherben machen, das bringt schließlich Glück. Besonders vor einer Hochzeit.
Aber bloß keinen Spiegel zerdeppern, das bringt Unglück. Vor allem, wenn es ein wertvoller Spiegel war und die Versicherung nicht für den Schaden aufkommt.

Strümpfe oder Unterwäsche linksherum anziehen, damit keine Hexen an einen gehen.
Kein Salz wegwerfen, das bringt ganz sicher Unglück.

Dafür aber mit Reis schmeißen, um anderen Fruchtbarkeit zu wünschen.
Immer dran halten, dann wird alles gut.

Falls mal etwas schief geht, sofort dreimal auf dem Absatz herumdrehen und dazu den River-Kwai-Marsch pfeifen. Das hilft zwar nicht, sieht aber lustig aus.

28. April – Boltes Kater

Da hoppelt das kleine Karnickel über den Feldweg. Den Wind im Rücken riecht es nicht die Gefahr, die auf es zukommt. Im hohen Gras am Wegesrand schleicht sich der fette Kater von Boltes an.

Nun kauert er sich ganz dicht am Boden zusammen und trippelt mit den Hinterpfoten. Die Barthaare gesträubt, die Augen starr auf das Karnickel gerichtet, abschätzend. Er macht einen Satz und der große Bolzer ist über dem Karnickel.

Das schreit auf, schlägt mit den Hinterläufen aus, kann sich gerade noch befreien. In großen Sätzen verschwindet es im Maisfeld. Boltes Kater setzt sich aufs Hinterteil, leckt sich die Pfote. Dann läuft er mit hocherhobenem Schwanz zur Terrassentür und miaut solange bis Frau Bolte endlich die Tür aufmacht und ihm einen Napf mit Futter hinstellt.

27. April – Das alte Ufer

Das kleine Boot war nach langer, langer Zeit ans alte Ufer zurückgekehrt. Nicht für immer, nur zu Besuch. Es war so lange nicht an diesem alten Ufer gewesen, dass es ihm nun völlig verwandelt vorkam.

In seiner inzwischen verblassten Erinnerung war doch einmal alles so groß gewesen an dem alten Ufer. Und es hatte einen wunderbaren Steg gegeben aus Holz, stabil und leicht knarrend, wenn man darüber lief. Und die Anlegestelle war großzügig bemessen.

Aber jetzt, das kleine Boot schaute sich um. Es war alles geschrumpft, als hätte jemand die Luft heraus gelassen. Wahrscheinlich wirkte deswegen das alte Ufer inzwischen auch etwas abgelebt und schrumpelig.

Trotzdem hatte der Ort nach wie vor Würde. Das ja. Das kleine Boot merkte, dass es selbst inzwischen wohl gewachsen sein musste. Denn die Anlegestelle passte nicht mehr zu seinen Ausmaßen und die Wassertiefe erlaubte ihm, nur gerade so bis an das alte Ufer heranzufahren.

Von hier war es also einst aufgebrochen. Aber nein, es war zwar der gleiche Ort, aber schon lange nicht mehr derselbe, so viel Wasser war seither den Fluss hinabgeflossen. Nicht nur das Boot hatte sich verändert auch der Ort, von dem es stammte, und der Blick, mit dem es auf das Ufer schaute.

Das Boot verbrachte einen schönen Nachmittag am alten Ufer, aber dann brach es voller Freude wieder auf zu neuen Abenteuern.

26. April – Gutes Wetter für Wichtel

Auf einem Berg im Wald da lebt eine Wichtelfamilie ganz tief verborgen in Höhlen unter ein paar natürlichen Basaltfelsen. Manchmal kommen Menschen vorbei.

Die Wandern dann durch den Wald, manche schreien laut, andere sind ganz leise und wollen so wenig wie möglich gehört werden, wieder andere treffen sich zu einem romantischen Stelldichein und hoffen, dass sie hier oben im Wald auf dem Bergrücken ungestört bleiben.

Das hatten die Wichtel auch gehofft. Ihnen war der 400 Meter hohe Berg riesig vorgekommen und sie hatten gedacht, da lassen uns die Menschen sicher in Ruhe.
Aber Pustekuchen, machen die Menschen natürlich nur selten. Im Winter zum Beispiel oder wenn es ganz doll regnet.

So bedeutet bei den Wichteln nicht so wie bei uns Sonnenschein und warme Luft gutes Wetter, sondern Regen und Schnee, Minusgrade und dichter Nebel.

Denn dann können die Wichtel nach Herzenslust auf ihrem Berg im Wald herumstreunen und sich so richtig austoben.

Das ist für sie das allerbeste Ausflugswetter!