19. Juli – Erkenne deinen Feind

„Erkenne deinen Feind“, sagte mein Vater immer und nickte dabei bedeutungsvoll. Und ich lauschte andächtig und nickte ebenfalls. Das erschien mir einleuchtend.

„Erkenne deinen Feind!“ Und dann weißt du genau woher alles Gemeine und Böse auf dich zukommen wird. Du kannst dich wappnen, du kannst ihm eins auswischen, bevor er darauf kommt dir eins auszuwischen, dein Feind. Oder du gehst ihm einfach großräumig aus dem Weg, das ist am sichersten.

Dann kam ich aufs Gymnasium und las über der Tür zur Aula: „Erkenne dich selbst“, natürlich stand dort in Altgriechisch Gnothi Seauton und ich musste abwarten, bis es einer unserer Lehrer erklärte, was es bedeutet. Aber dann war ich erschüttert.

Wenn es so wichtig war, mich selbst zu erkennen, wäre es da nicht logisch, dass ich selbst mein ärgster Feind sei. Und wenn das so wäre, welche Chance hätte ich dann, so dachte ich, mir selbst aus dem Wege zu gehen, mir eins auszuwischen bevor ich es selber tat oder zu verhindern, dass alles Gemeine und Böse direkt von mir auf mich zukommen würde.

Als ich nach Hause kam, fragte ich sofort meinen Vater danach, aber der lachte mich nur aus. Da würde ich schon noch drauf kommen, wenn ich älter wäre.

18. Juli – Schwarze Krähe

Eine schwarze Krähe saß auf dem Zaun und wippte mit dem Schwanz. Ich wusste genau, wenn ich noch ein paar Schritte auf sie zugehe, dann breitet sie die großen schwarzen Flügel aus und erhebt sich in die Lüfte.

Dann zieht sie einen Halbkreis über mir und landet irgendwo auf dem Rasen in der Nähe der Landebahn. Warum die Krähen mich fürchten, weiß ich nicht so genau. Vielleicht sehe ich der Vogelscheuche ähnlich, die ohnehin keiner mehr aufstellt. Oder ich ähnele dem Bauern, der die nimmersatten Krähen gerne abknallen würde, das aber nicht darf.

Manchmal balancieren fünf, sechs oder sogar acht Krähen auf dem Zaunrand. Dann sehe ich, wie eine antäuscht, die nächste mit den Flügeln zuckt und sie doch sitzenbleiben bis zum letzten Augenblick – bis sie alle wie ein schwarzes Gestöber in den Himmel aufflattern.

17. Juli – Ich bin

Ich bin viele. Die Reise durch die bizarre Landschaft meiner ICHs und SELBSTs, der UNTERMICHs und AUSSERMIRs ist noch lange nicht vorbei.

Natürlich ist mir das ein bisschen unheimlich, dass es in Wahrheit so wenig gibt, dass ich von mir mit Sicherheit behaupten kann. Ewig wandelbar, vielleicht festgelegt in gewissen Grenzen – weiblich, Westeuropäerin – bin ich vielleicht doch in der Lage alles Mögliche mehr oder weniger zu sein.

Wenn ich es will, wenn ich mich traue, wenn ich mir weiter vertraue.

13. Juli – Franks Glückshut

Frank hatte einen Hut, der ihm Glück brachte, sein ganz besonderer Glückshut. Immer wenn er ihn aufhatte, gelangen ihm die unmöglichsten Dinge. Wenn er ihn abnahm, war es damit vorbei, dann war er wieder genauso von Pech verfolgt wie sonst auch.

Also hatte sich Frank angewöhnt, immer und überall seinen Hut aufzubehalten, sogar im Schlaf. Schließlich wollte er auch glückliche Träume haben. Aber ab und zu musste er natürlich mal duschen oder er wollte mal ins Kino, da störte so ein Hut selbstverständlich. Nur was sollte er machen?

Also ging er nicht mehr ins Kino und badete lieber, anstatt zu duschen. Beim Haarewaschen nahm er nur ganz kurz den Hut ab und im Liegen konnte er weder ausrutschen noch das Wasser eiskalt werden – alles Dinge, die ihm in der Dusche ohne Hut ständig widerfahren waren. Seine Freundin fand das natürlich überhaupt nicht lustig, und als Frank sich weigerte, den Hut endlich abzunehmen, zog seine Freundin aus.

Aber das war ein großes Glück. Denn so konnte Frank jemand anderen kennenlernen und diese Frau fand ihn ja gerade richtig toll mit Hut. Dem Hut verdankte Frank einen besseren Job, eine größere Wohnung und ein glücklichers Leben. Irgendwann aber war der Hut ziemlich alt und zerschlissen. Er sah schon ziemlich schäbig auf Franks Kopf aus. Der war zwar auch nicht mehr der jüngste, aber der schäbige Hut fiel doch langsam unangenehm auf.

Da hatte Frank ein großes Problem. Er konnte sich doch nicht von seinem Glück trennen! Wie sollte er denn wieder mit dem alltäglichen Pech und Ärger klarkommen? Er hatte keine Lust auf rote Ampeln, einen schlechten Platz im Restaurant, überteuerte Urlaubsreisen, eine nörgelnde Ehefrau, sitzenbleibende Kinder, langjährige Arbeitslosigkeit, reißende Schnürsenkel, kaputte Autoreifen, schleichende Krankheit oder herabfallende Dachziegel. Und das waren die Unglücksfälle, an die er sich noch dunkel erinnern konnte, was war mit all dem Pech, das ihn unvorbereitet treffen würde? Nein, nein. Der Hut musste einfach bleiben.

Schließlich fand Frank einen Spezialisten für die Aufarbeitung und Imprägnierung alter Hüte. Nach langem Bitten kam er zu Frank ins Haus und rettete seinen Hut. Er musste ihn dafür nur ganz kurz für fünf Minuten vom Kopf nehmen. Aber das reichte dann schon, dass ihn eine Wespe ins Augenlid stach. Sobald Frank den Hut wieder aufhatte, schwoll sein Augenlid wieder ab und alles war in bester Ordnung. Irgendwann waren Franks Kinder groß und er selbst war unter seinem Glückshut langsam alt geworden.

Seine Enkel besuchten ihn und kannten ihn nur als Opa mit dem Glückshut. Besonders gerne saßen sie auf seinem Knie und ließen sich die phantastischen Geschichten seines immerwährenden Glückes erzählen.

„Opa, hast du immer grüne Ampeln“, krähten sie dann ungläubig, „und immer genug Eis, soviel du nur essen willst?“

Und Frank nickte nur. Und dann eines Morgens wachte Frank nicht mehr auf, der Hut war ihm im Schlaf vom Kopf gekullert und lag neben dem Bett auf dem Fußboden.

Seine Frau setzte ihm den Hut wieder auf, als sie Frank leblos fand. Aber das brachte ihn nicht mehr zurück. Vielleicht war auch das ein Glück.

11. Juli – Leander – Höhepunkt der Show

Leander der Clown weint. Eine große Träne fällt aus seinem linken Auge und kullert seine Wange hinab.

Nur sein Gesicht ist noch im Spotlight zu sehen. Sein Partner Toto, der die Violine ebenfalls weinen lässt, bleibt im Dunkel verborgen. Das ist der Höhepunkt ihrer Show.

Nur perfekt, wenn nun die Kinder lauthals zu Schluchzen beginnen, die Frauen diskret ihre Taschentücher zücken und die Männer heftig schlucken und sich verstohlen die Augen wischen oder plötzlich heftig die Nase putzen müssen. Wenn der letzte Ton der Geige verklingt, verlischt das Licht.

Tosender Applaus brandet auf. Die Manegenbeleuchtung geht an. Leander und Toto lachen wieder, verbeugen sich in alle Richtungen.
Abgang.

8. Juli – Positiv denken in der Katastrophe

Eines Tages stürzte Jens ins Labor und verkündete, dass es tatsächlich geschehen war. Die Katastrophe war eingetreten. Lange Jahre hatten wir alle gewarnt. Ständig hatten wir Lobby-Arbeit gemacht. Für den Klimaschutz, gegen die Regenwaldrodung, für fairen Handel, gegen Genfood.

Und nun war es passiert: Die ersten Toten nachweislich durch genetisch manipulierte Nahrung. Natürlich brodelte es seit langem. Aber bisher war es der Regierung, den Wirtschaftsvertretern immer gelungen den Deckel drauf zu halten.

Die Meldung verbreitete sich in sekundenschnelle um den Globus.
Diesmal war es nicht aufzuhalten. Es hatte fast alle Menschen auf einem Luxusdampfer erwischt, sämtliche Passagiere inklusive Mannschaft und Kapitän waren vergiftet worden, es hatten nur 16 Personen überlebt.

Nur mit Mühe konnten sie einen Hafen anlaufen, um sich dann in Quarantäne wiederzufinden. Zunächst wurde Vogelgrippe vermutet oder eine andere Viruserkrankung. Aber dann stellte sich heraus, dass das Fleisch von genmanipulierten Rindern die Ursache war.

Der Skandal offenbarte, dass weltweit bereits mehrere tausend Menschen an genau diesem veränderten Rindfleisch draufgegangen waren. Es entwickelte sich eine Art gallopierender Creutzfeld-Jakob-Variante. Die 16 überlebenden Personen auf dem Dampfer aßen allesamt kein Rindfleisch. Das hatte sie gerettet.

Und wir? Unsere Organisation? Uns wurden nach dem Aufdecken dieses Skandals sämtliche Gelder gestrichen.

Diese Rumstänkerei müsse aufhören, haben die Leute gesagt. Wir würden dieses ganze Unglück doch geradezu herbeireden. Wenn wir endlich aufhören würden immer die ganzen Missstände zu erfinden, dann wäre die Welt wieder in Ordnung. Alle wären glücklich. Und die Zukunft könne sowieso keiner aufhalten.

Wir sollten lieber lernen, positiv zu denken, das würde allen helfen.

7. Juli – Gertrud backt Pfannkuchen

„Verdammt nochmal!“ Gertrud schleuderte den verbrannten Pfannkuchen wütend in den Mülleimer. „Das gibt es doch nicht!“ Das war schon der dritte Pfannkuchen, der ihr verbrannte.

Beim ersten hatte es an der Tür geläutet. Der Postbote hatte ein Paket für den Nachbarn gebracht, der nie aufmachte. Das legte Gertrud dem Nachbarn noch schnell vor die Wohnungstür und als sie zurückkam, da qualmte es schon über dem Herd. Schnell zog sie die Pfanne von der Platte und riss das Fenster auf.

Das war der erste Pfannkuchen, der in den Mülleimer wanderte. Sie wischte die Pfanne aus, gab frisches Öl hinein und stellte sie wieder auf die heiße Platte. Pfannkuchenteig hinein. Diesmal würde sie aufpassen. Aber ihr Telefon läutete, Max war dran, sie erzählte ihm das Malheur mit dem Pfannkuchen. Plötzlich schlug sie sich an die Stirn, der zweite Pfannkuchen, sie hatte ihn vergessen und jetzt roch es schon wieder merkwürdig. Schnell rannte sie in die Küche und nahm die Pfanne vom Herd. Zwar qualmte der Pfannkuchen noch nicht, aber er war trotzdem völlig schwarz geworden. Also ab damit in den Müll.

Aber beim nächsten würde alles gut gehen. Gleichgültig, ob es klingelte, läutete, das Haus einstürzte. Sie würde neben dem Herd stehen bleiben und diesmal würde der Pfannkuchen genau richtig werden, auf jeder Seite zartgebräunt und innen goldgelb. Dann würde sie leckeren Ahornsirup darübergießen und ihn direkt aus der Pfanne essen. Mmh. Ihr lief schon das Wasser im Mund zusammen. Hatte sie denn überhaupt noch Ahornsirup? Sie schielte kurz zum Pfannkuchen. Der brauchte noch eine Weile.

Also lief sie schnell zur Vorratskammer und schaute nach dem Sirup. Da war ja gar keiner mehr. Schade. Aber sie hatte noch Honig. Oder was war das dort hinten? Sie räumte gerade ein paar Gläser ohne Beschriftung aus der hinteren Reihe nach vorn, da roch sie es. Angebrannt! Unverkennbar! Schon wieder! Auch der dritte Pfannkuchen gesellte sich zu den beiden anderen im Mülleimer.

Und noch einmal von vorn. Das war ihr letzter Rest Teig. Diesmal konnte sie sich keinen Fehler mehr leisten. Diesmal musste Gertrud unbedingt ihre ganze Aufmerksamkeit dem Gelingen des Pfannkuchens widmen. Sie stellte sich neben den Herd, als das Fett in der Pfanne genau die richtige Temperatur erreicht hatte, gab sie den letzten Pfannkuchenteig in die Pfanne. Sie dachte an Dosenobst und verbot es sich. Es klingelte an der Tür. Sie überhörte es. Eisern behielt sie den Pfannkuchen im Blick. Sie wendete ihn genau im richtigen Moment. Dann zog sie die Pfanne von der Platte, schaltete diese aus und stellte sich einen Teller auf den Tisch, Besteck daneben.

Dieser Pfannkuchen hatte einen gedeckten Tisch verdient. Sie gab den Pfannkuchen auf den Teller. Dann fiel ihr ein, dass der Ahornsirup im Kühlschrank stand, und holte ihn herbei. Dann gab sie genau die richtige Menge Ahornsirup über den Pfannkuchen, nahm die Gabel und teilte einen Bissen ab. Innen war der Pfannkuchen goldgelb und locker. Es dampfte leicht. Mit vollem Genuss steckte sie das erste Stück in den Mund, kaute, erstarrte und spuckte aus.

„Verdammt nochmal!“ Sie hatte Zucker mit Salz verwechselt und der Pfannkuchen war total versalzen. Voller Bedauern ließ Gertrud auch dieses Prachtstück in den Mülleimer wandern. Dann holte sie tief Luft. Was blieb ihr anderes übrig? Sie holte die Eier aus dem Kühlschrank, das Mehl aus dem Schrank. Dann eben wieder von vorn.

6. Juli – Häuptling Leuchtender Schuh

Eines Tages kam Leuchtender Schuh, der Häuptling der Mohawks, von einer anstrengenden Sitzung im Aufsichtsrat des Casinos nach Hause. Da stellte er fest, dass seine Frau Ausgemergelte Feder, ihre Koffer gepackt und ihn verlassen hatte.

„Na sowas!“, wunderte sich Leuchtender Schuh und checkte seinen Blackberry, der wegen der Konferenz noch auf stumm geschaltet war. Dort fand er eine Nachricht vor und die lautete folgendermaßen:

Lieber Leuchtender Schuh!

Es tut mir sehr leid, aber ich habe einen anderen kennengelernt und ziehe zu ihm. Ich hoffe, du findest bald eine neue Frau und wirst glücklich.

Bye-bye Deine Ausgemergelte Feder.

Aber Leuchtender Schuh hatte gar keine Lust eine neue Frau zu suchen. Das war ihm viel zu anstrengend. Erst das Kennenlernen. Da musste er wieder seine beste Seite hervorkehren und die Dame tat das gleiche. Dann stellten beide fest, dass seine beste Seite und die beste Seite der Frau prima zusammenpassten.

Als Nächstes kam der Liebestaumel, keiner konnte mehr ohne den anderen leben, große Sehnsucht bei nur fünfminütiger Trennung. Anschließend zusammenziehen, womöglich heiraten – nach der Scheidung versteht sich – und schon kam der Alltag und die schlechten Seiten von beiden kehrten sich hervor.

Und dann war es doch ohnehin vorbei mit dem Glück. Warum also sich immer wieder aufs Neue anstrengen, nur um die schlechten Seiten einer Frau kennenzulernen? Und noch schlimmer die eigenen schlechten Seiten vorgehalten zu bekommen?

Nein, nein. Da ging Leuchtender Schuh lieber ein paar Mal öfter die Woche mit seinen Freunden Golf spielen.

5. Juli – Ein kleiner Tierfreund

Es war einmal ein kleiner Tierfreund, der brachte jeden Tag irgendein verirrtes oder verletztes Tier mit nach Hause. Einmal war es ein Hund, dann ein Kaninchen, dann eine Brieftaube, manchmal auch nur eine arme Spinne, der ihr Netz zerrissen war oder ein Eichhörnchen, das sich den Knöchel verstaucht hatte.

Die Eltern des Jungen waren verzweifelt. Sie konnten ihm das einfach nicht austreiben. Sie hatten alles versucht. Sie hatten ihm verboten Tiere mitzubringen. Der Junge hatte es ignoriert. Sie hatte ihn angefleht. Aber der Junge hatte auf das Leid der Tiere hingewiesen. Das sei doch weitaus größer als das ihre.

Schließlich versuchten die Eltern, die Tiere heimlich fortzuschaffen, aber es nützte nichts, der Junge brachte sie am nächsten Tag einfach wieder mit oder sie kamen von selbst wieder. Es wäre ja vielleicht noch gegangen, wenn der Junge die Tiere nur in seinem Zimmer gehalten hätte.

Aber sie sprangen in der ganzen Wohnung herum. Die mitgebrachten Spinnen webten riesige Spinnennetze, erst in den Zimmerecken, dann aber auch über den Tür- und Fensteröffnungen. Und natürlich durfte niemand die Netze zerstören. Das hätte ja die Spinnen traurig gemacht. Die Hunde wohnten im Parterre, die Katzen unter dem Dach dort konnten sie über einen Ast, der fast bis zum Dachfenster reichte, ein und aus gehen wie sie wollten.

Die Eichhörnchen, Mäuse und sonstigen Kleintiere wohnten im ersten Stock. Im Keller tummelten sich noch zahlreiche andere Tiere. Für die Vögel hatte der Junge im Garten Volieren gebaut. Natürlich konnten sie von dort ausfliegen, wie sie lustig waren. Denn er zwang kein einziges Tier bei ihm zu bleiben, sie blieben alle freiwillig und lebten sogar einigermaßen einträchtig untereinander, nur um dem Jungen einen Gefallen zu tun.

Nur die Eltern, die hielten es irgendwann nicht mehr aus und suchten sich eine Wohnung weit, weit fort von dieser Menagerie. Und wenn sie nicht gestorben sind, ärgern sie sich heute noch.

4. Juli – Berenica Cruz

Berenica Cruz war eine wunderschöne Frau, glutäugig, schwarzhaarig, volle Lippen, üppige Figur. Wenn sie sich von Weitem näherte, verkörperte sie ganz und gar das Ideal einer schönen Spanierin, die sie schließlich auch war. Nur aus der Nähe verlor sie plötzlich und unerwartet. Das lag an Details.

Berenica gab einem die Hand so nachlässig und lasch, dass sie wie ein toter Fisch schnell losgelassen werden musste. Auch ihre Sprache ließ das Temperament vermissen, dass ihr Aussehen versprach. Ihre Stimme war sehr leise und hoch. Und auch ihr Lachen schallte nicht durch den Raum, sondern war nur ein glucksendes Kichern hinter vorgehaltener Hand. Überhaupt war Berenica sehr schüchtern und froh, wenn sie nicht angesprochen wurde. Aber genau das geschah natürlich unentwegt.

Vor allem Männer sprachen sie an, wollten sie einladen auf einen Kaffee, auf einen Wein, zum Frühstück. Sie hatte sich schon alle erdenklichen schönen, romantischen, plumpen oder langweiligen Anmachsprüche anhören müssen. Aber kaum hörten die Männer sie höflich ablehnen, fühlten, wie sie ihnen die Hand reichte, oder erlebten ihr glucksendes Kichern, erlosch ihr Interesse auf merkwürdige Weise.

So kam es, dass Berenica zu den Frauen gehörte, denen immer gesagt wurde: „Warum eine Frau wie du noch keinen Mann abgekriegt hast, ist mir unverständlich“. Und irgendwann hatte es Berenica satt. Eigentlich wollte sie nicht unbedingt einen Mann kennenlernen. Warum das so wichtig sein sollte, war ihr ohnehin rätselhaft. Aber sie wollte unbedingt zu sich selbst passen. Entweder also musste die glutäugige Spanierin dran glauben oder sie musste die Schüchternheit, den laschen Händedruck, das alberne Kichern und die piepsige Stimme ablegen. Die Schwierigkeit bestand darin, zu entscheiden, wer sie denn nun eigentlich war. Also ging Berenica zu einer Hexe, einer Wahrsagerin. Eine Freundin hatte sie ihr empfohlen.

Die Frau war alt und weißhaarig. Als Berenica in ihre Stube trat, paffte die Alte gerade an einer dicken Zigarre. Auf dem Tisch vor ihr stand noch eine Untertasse mit Kaffeesatz, von der letzten Kundin übriggeblieben. Ein Stapel Tarotkarten lag vor einem kristallenen Aschenbecher, der mit dicken Zigarrenstumpen bis zum Rand gefüllt war. Zweihundert Euro verlangte die Wahrsagerin. Und obwohl ihr dieser Betrag viel zu hoch erschien, zog Berenica die Scheine mit zitternden Fingern aus ihrem Portemonnaie und schob sie über den Tisch der Alten zu. Die zählte noch einmal nach und schob das Geld in ihre Rocktasche. Dann hieß sie Berenica, sich hinzusetzten, nahm selbst Platz. Gab Berenica die Karten zum Mischen.

„Mit der Herzhand! Konzentrier dich auf Deine Frage“, befahl sie knapp.

Berenica wechselte die Karten in die linke Hand. Schließlich legte sie den gemischten Stapel wieder zurück auf den Tisch. Die Wahrsagerin nahm sie und deckte die erste Karte auf und legte sie auf den Tisch. Sie zeigte den Teufel. Dann folgte als zweite Karte der Gehängte, als dritte das Gericht. Die Wahrsagerin paffte an ihrer Zigarre und sagte lange Zeit nichts.

Berenica wurde es unbehaglich zumute. Sie räusperte sich. Aber immer noch schwieg die Wahrsagerin. Berenica rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Besonders gut sah das doch nicht aus. Warum sagte die Wahrsagerin denn nichts? Schließlich drückte die Alte den Stumpen im Aschenbecher aus, seufzte noch einmal behaglich.

„Armes Kind“, sagte sie dann, „in der Vergangenheit warst du gefangen in einem schönen Leib mit einer ängstlichen Seele ohne Selbstvertrauen und Selbstliebe. Nun beginnst du einen Prozeß der Loslösung. Die Widersprüche werden unwichtig. Das ist schmerzhaft aber gut. Denn in Zukunft wirst du dein Leiden überwinden und ein völlig neuer Mensch sein.“

Berenica war sprachlos, ihr stand der Mund offen. Endlich fasste sie sich und sagte: „Und das war’s? Ich meine, das war alles, was sie mir für 200 Euro zu sagen haben? Da kann ja meine Mutter besser wahrsagen!“

Die Alte lehnte sich zurück und strahlte Berenica an. „Die Zukunft hat bereits begonnen“.

„Unverschämtheit!“, brüllte Berenica und pfefferte den Aschenbecher an die Wand. Sie sprang auf und drohte der Alten mit dem Finger: „Sie hören von mir!“

Dann rauschte sie auf die Straße und eilte zur nächsten Bushaltestelle. Kaum hatte sie dort 30 Sekunden gewartet, sprach sie ein Mann an: „Ihre Augen glitzern wie die hellsten Sterne, Signorina, bitte gehen sie mit mir einen Kaffee trinken“. Berenica holte aus und gab dem Kerl eine Backpfeife.

Nun funkelten ihre Augen wirklich wie Sterne. Und obwohl ihre Hand schmerzte, begann sie zu lächeln. Was war nur mit ihr geschehen, sie kannte sich selbst kaum wieder. Berenica hatte zwar keine Ahnung, was diese Wahrsagerin mit ihr gemacht hatte, aber wenn sie wirklich diese Veränderung bewirkt hatte, dann hätte sie 2000 Euro verdient.

2. Juli – Am Hauptbahnhof

Steht da wie ein Depp. Die Blumen sind bereits welk. Wartet und wartet immer noch. Am Siebenundzwanzigsten um dreizehn Uhr dreißig. Das hatte sie gesagt am Telefon. Sie hatte auch gesagt am Hauptbahnhof, Gleis sechzehn.

Also stand er seit kurz vor halb zwei am Hauptbahnhof, Gleis sechzehn. Aber keine Julia. Der Zug war eingefahren und er hatte erwartungsvoll die Reisenden gemustert, die ihm am Bahnsteig entgegenkamen. Es waren sehr viele Reisende. Der Zug endete hier.

Als auch die letzte Großmutter mit ihrem Rollkoffer vorbeigezuckelt und immer noch keine Julia in Sicht war, ging er am Zug entlang und spähte in die Waggons. Keine Julia. Ganz vorn stieg er ein und lief durch den Zug zurück. Keine Julia. Also stand er wieder am Gleis, die Blumen immer noch in der Hand.

Vielleicht hatte sie einen Zug später genommen. Er schaute auf den Plan. In zwei Stunden würde der nächste Zug erst eintreffen. Einen Augenblick bedauerte er, dass er so ein Handyhasser war. Er besaß nämlich keins.

Also machte er sich auf die Suche nach einer Telefonzelle. Die sahen natürlich heute gar nicht mehr aus wie Zellen, mehr so wie Muscheln. Als er eine fand, nahm der Apparat nur Telefonkarten. Also suchte er weiter. Schließlich fand er ein Telefon, das er mit Kleingeld füttern konnte. In seinem Portemonnaie fand er nur noch ein Euro und zehn Cent. Sein letztes Kleingeld war für die Blumen draufgegangen. Auch das bedauerte er jetzt.

Er tippte die Nummer von Julias Mobiltelefon ein. Julia war ja modern. Sie besaß so etwas. Aber sie ging nicht ran. Er wollte eine kurze Nachricht auf ihrer Mailbox hinterlassen. Aber was nutzte das? Sie konnte ihn sowieso nicht erreichen. Außerdem, wie sähe das aus? So eine alberne Nachricht im Stile von, ich stehe am Bahnhof und du bist nicht da. Er kam sich sowieso schon vor wie ein Idiot. Als er die Blumen wieder vom Münzfernsprecher nahm, hatte die erste einen Knick.

Jetzt war es ohnehin so spät, dass der nächste Zug gleich einfahren musste. Er ging zurück zu Gleis sechzehn. Er wartete. Es begann wieder das gleiche Spiel. Keine Julia. Er suchte im Zug. Keine Julia. Dann dachte er, vielleicht haben wir uns verpasst und ging zur Information. Er ließ Julia ausrufen. Er wartete wieder, lief aufgeregt hin und her. Einige der Blumen hatten ein paar Blütenblätter eingebüßt.

Überhaupt, der Strauß wurde wirklich langsam welk. Und immer noch keine Julia. Der Zug aus M. fuhr planmäßig alle zwei Stunden ein. Da er nun solange gewartet hatte, beschloss er, auch den nächsten noch abzuwarten. Aber auch diesmal, keine Julia. Schließlich gab er auf. Julia kam nicht. Sie hatte ihn einfach vergessen. Vielleicht hatte sie etwas Besseres vor.

Steht da wie ein Depp. Die Blumen sind bereits welk. Er wirft sie in einen Mülleimer. Es dauert ewig, bis endlich eine Straßenbahn in seine Richtung kommt. Aber eine Stunde später schließt er endlich die Tür zu seiner Wohnung auf. Am Spiegel im Flur klemmt ein großer handgeschriebener Zettel. Julia, Hauptbahnhof, Achtundzwanzigster, dreizehn Uhr dreißig. Verfluchter Mist, sie kommt ja erst Morgen. Und er hat den Blumenstrauß schon weggeworfen.

29. Juni – Die freie Wahl im Angesicht des nahenden Todes

Wie viel Freiheit bleibt im Angesicht des nahenden Todes?

Im Namen der Menschlichkeit deines freien Willens beraubt. Deine Sinne sind ja benebelt. Du kannst nicht mehr klar denken. Zerfressen von Schmerzen. Durchwuchert von Krankheit. Deine in jahrzehntelanger Kleinarbeit erworbene Autonomie plötzlich in Chemie aufgelöst, in punktgenauer Strahlung atomisiert.

Ja, Angst, Angst so groß, so unglaublich groß und mächtig, aufgebauscht und ausgebreitet vor dir, über dir, in dir, tief eingefressen.

Sag ja zu deiner Entmündigung. Apparate und Werte und Statistiken wissen, was gut und richtig für dich ist. Dort etwas hinausschneiden, hier etwas hineinstopfen. Noch dankbar sein. Was dann?

Einfach abhauen in einer stillen Nacht. Lieber das Leben aufs Spiel setzen als immer, immer, immer zu hängen an dem, was alle anscheinend so wichtig nehmen.
Das Dasein!

Geht es nicht auch um das Wie? Zählt das nicht auch? Wer hat das Recht, meine Entscheidungen zu treffen? Warum diese Anmaßung?

Je besser die Menschen umso astronomischer die Zahl ihrer Übergriffe.

„Ach“, sagen sie dann, „wir haben es doch so gut gemeint, aber du, du wolltest ja nie hören. Du wolltest ja nie, niemals tun, was wir dir sagen, was wir dir nachtragen, was wir doch soviel besser wussten und wissen und wissen werden immerdar. Amen.“

Aber ich sage: „Lasst mir mein Leben, lasst mir meine Entscheidungen! Für mich hört die freie Wahl nicht auf, weil mir einer den Nachttopf unter den Hintern schiebt.“

Redet Ihr, fragt Ihr jemals, Ihr guten Menschen, wie es den Geschöpfen geht, denen Ihr unaufhörlich und ungefragt Gutes tut?

Oder rettet Ihr blind und selbstsüchtig die Welt, die Natur, die arme Kreatur, den Regenwald, das Klima, den bedauernswerten Kranken, damit Ihr Euch wertvoll fühlt?