23. September – Das Gegenteil von gut…

Das Gegenteil von gut…ist gut gemeint. Heiner ruft aus der Küche. „Komm essen!“ Rita seufzt. Andauernd nervt der Typ. Erst kochen, dann aufwaschen, dann staubsaugen, putzen, einkaufen, ausgehen.

Und dann noch unerträgliche Einmischung in ihre Kleiderwahl.
„Zieh doch bitte das grüne Kleid an. Jeans und Bluse sind doch viel zu leger.“

Seit Rita mit Heiner zusammen ist, hat sie immer öfter das Gefühl, er behandele sie wie ein Kind. Wenn sie ihm sagt: „Halt dich da raus, ich ziehe mich an wie ich will“, dann sagt er sofort: „Aber ich kümmere mich doch nur um dich, weil ich dich so liebe!“ Schaut aus der Wäsche wie ein getretener Hund dabei. Wie soll Rita sich da noch weiter aufregen?

Sie ist so ungern im Unrecht oder womöglich gemein, lieblos und hartherzig. Also schluckt sie tapfer runter, was ihr auf der Zunge brennt, im Hals schwillt und im Bauch grummelt. Eingeengt fühlt sie sich von so viel Fürsorge. Weil das Etikett „Liebe“ daran klebt, wagt sie nur zaghafte Gegenwehr.

Aber, so denkt sie in letzter Zeit, ist das nicht nur ein gigantischer Schwindel? Kann das Liebe sein, wenn sich einer dauernd so über sie überstülpt und ihr jegliche eigene Initiative nehmen will? Immer über sie bestimmen will? Immer alles besser weiß? Auch wie sie sich zu fühlen hat?

Sie hat es so gründlich satt. Und immer öfter schaut der Heiner getreten aus der Wäsche. Spielt sie aus die Böse-Rita-Karte. Nur dass ihr schlechtes Gewissen sich inzwischen häufiger verflüchtigt. Zur Hölle mit der freundlichen, lieben, geduldigen Rita. Diese Behandlung bringt den Giftzwerg in ihr hervor.

Wütend tanzt der Zwerg auf dem Parkett und hätte nichts dagegen statt nur auf Heiners Gefühlen auch auf seinem Rücken herumzutrampeln. Solch ein Zorn wütet in ihr. Der Giftzwerg spuckt Gift und Galle. Die liebevolle Fürsorge juckt und kratzt wie ein viel zu enger Schurwollpullover. Rita hat noch keine Idee, wie sie Heiner davon abhalten soll die Gluckenmutter zu geben.

Aber in einem ist sie sich sicher: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.

20. September – Synchronizität

Wissen Sie, was eine Synchronizität ist? Vor allem unheimlich. Ehrlich gesagt nicht nur die Synchronizitäten, die ich selbst erlebte, sondern auch die, deren Werkzeug ich wurde.

Nun gut, beginnen wir von vorn. Jeder kennt dieses Phänomen, ein Beispiel: Sie haben sich von Ihrem Partner getrennt. Nach einer Trauerphase steht dann die Suche eines neuen Partners an. Garantiert in dem Augenblick, in dem Sie innerlich bereit sind, werden Sie genau den Richtigen treffen.

Sie wünschen sich einen neuen Job (und glauben auch daran, einen zu finden), Schwupps, werden Ihnen die Gelegenheiten über den Weg laufen.

Alles Synchronizitäten: Ereignisse, die keinen kausalen Zusammenhang besitzen, aber sinnhaft miteinander verbunden erscheinen.

Merkwürdiger ist folgendes: Sie bringen Ihrer besten Freundin, die Sie lange nicht getroffen haben, das erste Mal im Leben aus einer spontanen Eingebung ein kleines Geschenk mit. In Ihren Augen ein völlig belangloses Geschenk. Sie packt es aus und ist völlig verzückt, weil es gerade zu dem passt, was sie soeben beschlossen hat, in ihrem Leben zu ändern.

Für mich persönlich ist allerdings dieses Erlebnis von Synchronizität am schönsten gewesen: Eines Tages grübelte ich, wie den wohl dieser Jedi-Ritter hieß, den in den alten Star Wars Filmen Alec Guinness spielte und in den neuen Ewan McGregor. Es war sowas von dumm, ich kam auf die Namen der Schauspieler, mir fiel jedoch der Name der Figur nicht ein.

Nun ja, ich fragte meine Freundinnen, aber die wussten es auch nicht. Da wir gerade unterwegs waren und noch keine Smartphones besaßen – die Geschichte ereignete sich etwa 2013 – konnte ich auch nicht online danach suchen, später, zu Hause vergaß ich es.

Am nächsten Tag besuchten wir eine weitere Freundin, die am Rande der Lüneburger Heide wohnt. Natürlich mussten wir dort einen Spaziergang machen. Es war ein Wochentag und die Heide war wunderbar leer, kein Mensch weit und breit, nur ein großer Hund begegnete uns.

Hah, dachte ich, was für ein Trottel lässt seinen Hund hier allein durch die Gegend laufen? Irgendwo muss doch sein Herrchen sein.

Da hörte ich eine männliche Stimme rufen: „Obi Wan Kenobi, komm her!“

Nur ein Zufall oder doch mehr? Vielleicht der Ausdruck einer Verbundenheit, die sich schwer erklären oder fassen lässt. Oder einfach nur ein nerdiger Fan, der eben seinen Hund nach seinem Lieblingsfilmcharakter benannt hat und der zufälligerweise zur gleichen Zeit am gleichen Ort spazieren ging wie meine Freundinnen und ich, wie es hunderte weitere Menschen mit ihren Hunden Han Solo oder Data oder Beethoven jeden Tag tun, ohne mir weiter aufzufallen?

Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich lachen musste und am liebsten auf die Knie gesunken wäre aus Ehrfurcht vor dieser wahnsinnig wunderbaren Kreativmaschine Universum, in der wir leben. Warum einen Zettel dranhängen? Ich erlebe und staune lieber.

19. September – Grafen

Der Telegraf ist seit langer Zeit arbeitslos. Niemand mehr benötigt ihn, der früher einmal Telegramme mittels eines Morsealphabets durch einen dünnen Draht über weite Strecken übermitteln konnte.

Im Grunde war nur seine Fähigkeit gefragt, gesprochenes Wort in Striche und Punkte und Punkte und Striche zu übersetzen und natürlich rasend schnell mit den Fingern die langen und kurzen Signale Dit..Dit…Dit – Dah…Dah…Dah zu tippen oder die auf dem Kopfhörer ankommenden Signale zu verstehen und für den Empfänger in Buchstaben zu verwandeln. Verschwiegen musste er natürlich sein, ein Geheimnis zu bewahren wissen. Denn nicht alle Nachrichten, die durch Punkte und Striche übermittelt wurden, waren für jedermanns Ohren bestimmt.

Auch der Stenograf ist heute so ziemlich ausgestorben. Manchmal noch ersetzt durch eine Stenografin. Aber so häufig wohl nicht mehr benötigt, in den meisten Fällen wird einfach eine Tonaufzeichnung benutzt, die derzeit noch eine Schreibkraft abtippen darf, demnächst aber wohl direkt der Computer verstehen und in eine Textdatei verwandeln soll. Natürlich gibt es entsprechende Programme bereits, aber zum Glück für alle Sekretärinnen und Assistentinnen, funktionieren diese noch nicht so besonders gut.

Es hat ziemlich viele Grafen erwischt, seit der Französischen Revolution. Aber den Fotografen gibt es noch. Auch den Lithografen hier und da. Ein Hoch auf unsern Adel!

18. September – Blick aus dem Fenster

Blick aus dem Fenster. Wunderbar aufgeräumt sieht es aus dort draußen. Ordentlich stehen die Grashalme in Reih‘ und Glied, ebenso die Bohnenranken und auch die Apfelbäume. Die Herbstsonne wirft ihre goldenen Strahlen über sie. Lässt all die Pflanzen dort noch einmal in hellem, satten Grün aufscheinen.

Ein paar Wölkchen tummeln sich am blauen Himmel, spielen Ringelreihen. Der Wind hält sich noch zurück, kein Tosen, nur ein zartes Streicheln, kein Zerren, nur ein beherztes Zupfen. Die Baumwipfel wiegen sich in seinen Armen. Die langen Schatten künden den Herbst. Der Sommer geht zur Neige.

So sehr wir auch an den letzten Tropfen saugen, sie auf der Zunge behalten, nachschmecken. Brandgeruch dringt schon in unsere Nasen. Erste Kälte zwickt uns, macht uns unleidlich. Die Schwalben sind längst fortgezogen und die Stare machen Zwischenstation auf dem Dach unseres Nachbarn. Unruhig sitzen sie, wippen mit ihren Schwänzen, trippeln voller Ungeduld, Reisefieber unterm Federkleid.

Bald ist auch der Mais überall geerntet, die letzten Äpfel sind gefallen. Dann bereitet sich alles auf die Ruhe vor, das Kräfte sammeln. Im Dämmerschlaf. Bis zum nächsten Aufkeimen, Wachsen, Springen, Wiederkehren.

17. September – Ein knorriger, alter Mann

Eines Nachts kam ein knorriger, alter Mann an meine Tür und klingelte. Normalerweise mache ich um die Uhrzeit die Haustür unten gar nicht mehr auf. Aber ich erwartete eine Freundin, die sich bereits per Telefon angekündigt hatte. Also drückte ich ohne lange nachzufragen den Summer, öffnete meine Wohnungstür einen Spalt und verschwand wieder in der Küche, um Tee zuzubereiten.

Als nach zwei Minuten immer noch keine Caro bei mir in der Küche stand, wunderte ich mich und ging wieder an die Tür. Sie stand immer noch einen Spalt offen, unverändert. Ich öffnete sie und lauschte ins Treppenhaus. Ein keuchender Atem war zu hören, schwere Schritte, ein hohler, klackernder Ton. Caro konnte das nicht sein, außer sie hatte über Nacht 100 Kilogramm zugenommen, sich außerdem noch beide Beine gebrochen und versuchte jetzt mit Krücken in den fünften Stock zu gelangen.

Ich versuchte, durch die Treppengeländer nach unten zu erspähen, wer sich da näherte. Ich sah aber nichts weiter als eine alte, sehr alte knorrige Hand, die sich in Zeitlupentempo am Handlauf nach oben schob. Sich festkrallte. Dann wieder löste und ein paar Zentimeter weiter oben zukrallte. Die Adern traten hervor, knotig waren die Finger und große Altersflecken prangten auf dem Handrücken.

„Hallo!“, rief ich zaghaft. Das Keuchen wurde lauter, dann ein knapper Ruf. Ich verstand aber nicht, was gerufen wurde. Eine große Furcht erfasste mich. Wer schellte um diese Uhrzeit bei mir? Keuchte langsam wie eine Schnecke die Treppen hinauf? Schnell glitt ich zurück in meine Wohnung und schloss die Wohnungstür hinter mir. Leise. Und lauschte. Legte mein Ohr an das glatte Holzimitat. Bestimmt hatte sich der Mann getäuscht. Im Dunkeln die falsche Klingel gedrückt. Vielleicht wollte er zu Familie Semmerau von unten. Ich unterdrückte ein Zittern. Ein lautes Klacken ertönte. Das Flurlicht hatte sich automatisch ausgeschaltet. Dann ein leises Klicken. Wieder an.

Ich schaute durch den Spion. Ich sah einen alten Mann mit einem dunklen Wurzelholzstock im zerschlissenen Lodenmantel, mit weißem Backenbart und einer Schiffermütze auf dem Kopf vor meiner Tür stehen. Langsam schob sich der Zeigefinger seiner Hand auf meine Klingel. Noch bevor er sie berührte, wusste ich, ich mache nicht auf. Nein, niemals.

Als ich dies dachte zuckte das linke Auge des Mannes in meine Richtung. Sein Augapfel drehte sich und blickte mich voll an. Ertappt machte ich einen Schritt zurück in meine Wohnung. Die Türklingel schrillte in meinen Ohren. Ich versuchte, unhörbar zu atmen. Wartete. Er klingelte wieder. Mich an der Wand entlang tastend trat ich den Rückzug in meine Küche an. ‚Drrrring‘. Ich hasste diesen Ton. Nun ließ er den Finger auf der Klingel. Ich spürte das Knirschen des alten Fingernagels auf dem Knopf.

„Verdammt nochmal“, brüllte ich, „wer sind Sie, was wollen Sie? Mitten in der Nacht?“ Das Klingeln erstarb. Keine Antwort. Vorsichtig näherte ich mich wieder der Tür, spähte durch den Spion. Der Mann hielt einen Zettel hoch.

„Suche Arbeit!“, stand dort in großen Lettern.

„Nachts um Elf?“, rief ich erbost. „Machen Sie, dass Sie wegkommen.“ Dann wurde plötzlich etwas weich in mir.

„Warten Sie einen Moment“, sagte ich und lief in die Küche, um etwas zu essen und eine Flasche Bier in eine Tüte zu packen. Auch zwei Geldscheine legte ich dazu. Dann legte ich die Kette vor, öffnete die Tür einen Spalt und reichte die Tüte hinaus. „Tut mir leid, mehr kann ich nicht für sie tun.“

„Doch, bitte“, stieß der Mann mit rauer Stimme hervor, „würden sie bitte einen Moment meine Hand halten?“ Und schon griff er nach meiner Hand, die die Tüte festhielt, umschloss sie sanft mit seiner alten, knotigen Hand. Ich schaute den Mann an, sah seine Augen, voller Trauer, voller Abschied, voller Freude. Ganz sanft lag meine Hand in seiner.

„Wer…“, begann ich. Und dann begriff ich.

„Warte“, ich löste meine Hand aus seiner, öffnete die Tür und ließ den alten Mann ein.

„Komm!“ Ich führte ihn den Flur entlang Richtung Küche.

„Psst! Du schläfst gerade.“ Ich öffnete kurz die Tür zu Saschas Zimmer. Er war noch klein und niedlich, gerade fünf, er hatte seinen Plüschdelphin im Arm, die Beine freigestrampelt. Leise führte ich den Mann in die Küche, bat ihn, sich zu setzen.

Du träumst gerade“, sagte ich zu Sascha, den ich hinter den Augen des alten Mannes erkannt hatte. Er nickte.

„Ich bin gerade gestorben und du träumst von mir, damit du noch einmal mit mir Tee trinken, meine Hand halten und dich verabschieden kannst.“ Wieder nickte der alte Mann. Also tranken wir Tee und hielten uns an der Hand. Als der Alte Luft holte, schüttelte ich den Kopf.

„Sag’s mir nicht!“ Und so saßen wir, bis Sascha aufhörte zu träumen. Ich erkannte es daran, dass die Augen des Alten plötzlich dunkelgrau wurden. Da entzog mir der Mann verlegen seine Hand, stand auf, nahm die Tüte mit den Kostbarkeiten und verließ schlurfend meine Wohnung. Zehn Minuten später klingelte Caro. Ich musste neues Teewasser aufsetzen.

16. September – Maeve stattet einen Besuch ab

Liebe Maeve, Göttin der Verantwortung! Das find ich ja nett von dir, dass du mal vorbeischaust. Richtig klasse siehst du aus in deinem Wallekleid mit Diadem auf roten Haaren und natürlich Schwert und Schild und Täubchen auf den Schultern und gehörnter Kuh neben dir.

Ein bisschen getriezt fühle ich mich ja schon. Aber dann denke ich schnell daran, dass du mich ja unterstützen willst, nicht gängeln. Und ich arbeite ja sowieso gerade am Endlich-Erwachsen-Werden. Und ist das jetzt wirklich noch sooo viel, wofür ich noch keine Verantwortung übernehme, dass du extra zu Besuch kommen musst?

Mmh. Na ja, So ein, zwei Dinge fallen mir da schon ein. Peinlich, nicht, dass da immer noch was ist, worum ich mich bisher gedrückt habe. Okay. Ich spuck es aus. Ich bin selbst verantwortlich für mein Dicksein. Kein Mensch hat mich gezwungen so viel zu essen und zu sammeln und mir Schutzschichten zuzulegen, nur damit ich mich nicht mit unerwünschten, unangenehmen, angstmachenden, lästigen Gefühlen herumschlagen musste. Ja, ich habe die Verantwortung für all diese Regungen, die Wut, den Zorn, die Lust, die Lebendigkeit, die Angst, die Wildheit, die Hingabe, die Ach-was-weiß-ich, eben alles, was sich so regt in mir und gerade nicht passt, weil ich mich dann streiten müsste (oh, wie ich Konflikte scheue) oder weil ich dann meine Angst oder Unwissenheit zugeben müsste. Nö, da ist es natürlich viel einfacher noch ne Pizza zu bestellen. Klar, soll sich mein armer Körper mit den ungelebten Gefühlen abplagen.

Na gut, Maeve, das war Nummer eins. Dann zeig mal, was du kannst, und lehre mich Mores, also Verantwortung zu übernehmen. Anstatt zur Gabel greife ich also in Zukunft zu Schwert und Schild und hau den Deppen eine auf die Barnatzel. Wer mich ärgert, muss damit rechnen. Okay, okay, ganz so dolle wird’s nicht, dafür sitzen ja die friedlichen Täubchen auf meinen Schultern und gurren mir was vor: „Bedenke das Ende, gib dich hin, aber bedenke das Ende!“ Ja, ja! Das Rumlavieren soll ich lassen, immer auf die passiv-aggressive Tour einfach Aufgaben „vergessen“, die mir nicht passen anstatt zu sagen: „Mach ich nicht, will ich nicht!“ Wenn ich Raum brauche, mir den einfach zu nehmen anstatt auf eine glückliche Fügung zu warten, die mir die willkommene Ausrede liefert, das zu tun, was ich lieber will.

Gut, gut, Maeve. Schon kapiert! Schnauze auf statt Klappe halten, zu mir stehen, die Folgen tragen. Können ja auch ganz angenehme Folgen sein. Wahrscheinlich sind die sogar superangenehm und ich Idiotin habe aus lauter Schiss all die Jahre darauf verzichtet. Her mit dem Schwert, ich richte es auch nur zu Boden, wie du es tust. Solange die anderen friedlich sind, versprochen.

15. September – Frau mit Jaguar

Eine Freundin von mir hat einen Jaguar. Also nicht das Tier, sondern das Auto. Das ist so ein wirklich schickes, ein klein wenig gefährlich aussehendes Gefährt mit einem springenden Jaguar als Kühlerfigur.

Ihr Jaguar ist ein etwas älteres Modell, fast schon ein Oldtimer. Meine Freundin ist alleinstehend, Single, wie man das neudeutsch nennt, und besitzt außer dem Jaguar noch ein großes Haus mit Doppelgarage und Kenntnisse als Automechanikerin obendrein, anscheinend ist das bei einem alten Jaguar von Vorteil. Ja, richtig, sie ist ein außergewöhnliches Exemplar Mensch.

Nicht jede Frau ist erfolgreich im Job, hat ein großes Haus, ein tolles Auto, kann dieses auch selbst reparieren und sieht darüber hinaus auch noch gut aus. Und entscheidet sich gegen Ehe, Kinder und sonstige familiäre Verpflichtungen. Dabei ist sie nicht unglücklich. Das Klischee vermutet nun eine schlimme Kindheit oder sonstige Traumata als Hintergrund. Aber nein, die Eltern meiner Freundin haben sie stets dazu ermuntert, sich selbst treu zu sein. Und das bleibt sie bis heute: sich selbst treu.

Ab und zu hat sie mal Amouren. So nennt sie das. Aber bisher hat sie keinen Mann getroffen, der mit ihrer Unabhängigkeit über längere Zeit klar kommt. Sicherlich, irgendwo wird es diesen Menschen geben, der schätzen kann, dass meine Freundin vor allem sich selbst treu ist und nicht einem anderen Menschen oder einer Sache.

Wenn ich ehrlich bin, dann bewundere ich sie für ihre Unangepasstheit und dennoch erscheint sie mir oft wie ein Monolith aus dunkler Vergangenheit oder einer unerreichbaren Zukunft, irgendwo in einer Welt gestrandet, die mit ihr rein gar nichts anfangen kann.

12. September – Aufgespartes Leben

Es war einmal ein kleines Mädchen, das war das jüngste von 13 Kindern. Und weil die Eltern sehr arme Leute waren, hatten sie für ihr jüngstes Kind kein Leben mehr übrig und es musste das Leben von einer älteren Cousine auftragen, die es nicht mehr brauchte.

Also quälte sich das kleine Mädchen mit dem viel zu großen Leben ab. Seine Eltern hatten zwar ein paar Abnäher reingemacht und Arme und Beine gekürzt so gut es ging. Aber das Mädchen stolperte doch ständig über die losen Enden. Zum Glück fanden die Eltern noch ein altes verstaubtes Leben in einer Truhe unter dem Dach, das war von einer Großmutter übrig. Sie hofften, dass das dem Mädchen vielleicht besser passen würde. Also probierte das Mädchen das Leben an und siehe da, das von der Oma passte tatsächlich besser.

So stolperte es nicht mehr so oft. Die Leute wunderten sich nur manchmal über seine sehr bestimmten Ansichten zu ehelicher Treue, Nacktheit in der Öffentlichkeit und über sein streitbares Verhältnis zum Pfarrer, mit dem es regelmäßig religiöse Fragen erörterte. So wuchs das Mädchen heran und das alte Leben von der Großmutter fiel langsam aber sicher auseinander, wurde immer löchriger und fadenscheiniger. Da machten sich die Eltern Sorgen, wo sollten sie denn bloß noch ein haltbares Leben für ihre jüngste Tochter herbekommen. Ein Leben, das nicht gleich auseinanderriss, wenn mal einer zu laut nieste.

Aber dem Mädchen schien überhaupt nicht bange zu sein. Sie strapazierte das alte Leben der Großmutter nach Herzenslust. Denn das Mächen hatte längst bemerkt, dass die Oma heimlich große Klumpen von Lebensenergie ganz unten in den Taschen versteckt hatte. Das Mädchen wusste nicht so genau warum. Aber dort musste sie nur die Fingerspitzen hineinstecken und schon kribbelte und hippelte es überall an ihr und in ihr. Und so lachte sie nur über die Sorgen ihrer Eltern und ließ es sich wohlergehen mit dem ganzen aufgesparten Leben von der alten Großmama.

10. September – Im Wald ist es still

Die Vögel singen nicht mehr. Im Wald ist es still. Die Mücken fliegen lautlos und stechen noch lautloser.

Ab und zu raschelt ein Tier im Unterholz. Ganz selten einmal bricht ein Reh durch. Aber kein Singen. Kein einziger Ton.

Die Vögel sind es leid sich zu produzieren und aufzuspielen, sie jiepen und fiepen nicht mehr, kein jubeln, kein tirilieren, kein schuhuhen und auch kein pfeifen weder eintönig noch melodiös. Einfach Stille.

Bis auf meinen Atem, die Schritte auf dunkler Erde, manchmal raschelndes Laub und dann und wann von ganz weit vorn doch ein merkwürdiges Geräusch, fast ein Pfeifen. Aber es ist nur ein Jogger, der sich für seine Gesundheit abmüht. Kaum erspäht er mich, nimmt er Haltung an und hört auf zu keuchen und zu japsen. Nur die schweren Tritte verraten, dass er sich nicht so häufig diese Tortur aussetzt.

Gamander Ehrenpreis ist längst verblüht, dick und lila prangen verräterisch aussehende Früchte am Gesträuch. Da beginne ich ganz langsam und zögerlich selbst zu pfeifen. Ein bisschen die Tonleiter rauf und runter, ein paar Synkopen, dann Beethoven. Ich werd es euch schon zeigen. Wenn ich Urwaldgeräusche will, dann mache ich mir eben selber welche. Herbst? Keine Lust mehr?

Pah. Ich habe das ganze Jahr Saison.

9. September – Kehraus

Sybille öffnete ihren Kleiderschrank zum großen Kehraus und erschauerte vor den Bergen von schlecht zusammengelegten T-Shirts, Pullovern und Hosen. Wenigstens die Blusen und Jacken hingen einigermaßen in Reih‘ und Glied.
Unterwäsche, Socken, Reizwäsche, halterlose Strümpfe, Strumpfhosen, Stocks lagen kreuz und quer in drei Schubladen. Sie hasste den ganzen Kram. Das war ihr plötzlich klar. In Wahrheit hatte dort nichts die richtige Farbe.

Was um Himmels willen wollte sie mit einem knallroten Abendkleid mit Pailletten? Und was sollten diese schwarzen, grauen, granitfarbenen Hosenanzüge aus Polyester, mal mit mal ohne Nadelstreifen? Weiße Blusen mit Schillerkragen, mit Rundkragen, mit Spitzkragen, mit Rüschen.

Sie fing an auszusortieren. Aber dann besann sie sich. Sorgsam abwägend suchte sie ihre Lieblingskleidungsstücke aus dem Schrank heraus und legte sie aufs Bett. Als sie sicher war, alles gefunden zu haben, stopfte sie alles andere, was noch im Schrank lag oder hing, in zwei große Müllsäcke, knotete sie zu und fuhr zum Altkleidercontainer.

Nur mit großer Mühe schaffte sie es, die schweren Säcke in die Container zu hieven und durch den engen Einfallschlitz zu bugsieren. Als es ihr endlich gelang, klatschte sie in die Hände und fuhr eilig nach Hause. Als Nächstes war der Schuhschrank dran und dann der Geschirrschrank und dann der Bücherschrank. Oh, wie schön, endlich fort mit all dem Ballast. Sybille jubelte und fühlte sich unsagbar frei.

7. September – Frankfurter Kreuz

Kennen Sie das Frankfurter Kreuz? Das Autobahnkreuz bei Frankfurt am Main? Großer Verkehrsknotenpunkt, dort treffen viele Autobahnen zusammen und trennen sich wieder. Führen einen jeden in die richtige Richtung, wenn er sie nimmt die richtige Richtung, die Abfahrt nicht verpasst und sich nicht irremachen lässt von den Zeichen und Weisungen.

Und mahnend schwebt immer noch über mir die Beschreibung meines Vaters, wie ich am Frankfurter Kreuz mich zu verhalten habe, wenn ich meine Großmutter besuchen will. Nie, niemals dürfe ich die A3 Richtung Basel weiterfahren, das sei grundfalsch, führe mich in völlig andere Gefilde. Gefährlich wahrscheinlich, auf jeden Fall weitab vom Ziel.

Meine Großmutter lebt schon lange nicht mehr, trotzdem war ich noch nie in Basel, habe niemals daran gedacht, die A3 am Frankfurter Kreuz zu verfolgen. Vielleicht wird es endlich Zeit herauszufinden, was an der A3 Richtung Basel so gefährlich ist. Ob es dort nicht auch lohnende Ziele gibt, die nur auf mich warten.

6. September – Untergang

Untergang. Wie es geschah, dass weiß keiner, aber dass es geschah, daran erinnern sich noch viele. Ein kleines Boot, ein Segelboot, geliehen von unerfahrenen Seglern, unsinkbar diese Dinger, das Boot wurde auch wiedergefunden nur etwas zerzaust aber ohne Besatzung.

Und das war es dann. Suchaktion ohne große Hoffnung. Schließlich wurden irgendwann die Leichen gefunden, aufgebläht und seltsam wächsern, stinkend natürlich. Nichts für einen offenen Sarg. Traurige Reden auf den Beerdigungen, so unerwartet, so jung, so vielversprechend, so talentiert. Niemals, niemals werden wir euch vergessen.

So schworen wir damals. Und doch, irgendwann vergessen auch wir, vielleicht erst wenn wir tot sind. Was interessiert unsere Kinder, unsere Enkel das Leben und der unerwartete Tod von irgendwem, den sie nie kannten. An die ich mich kaum noch erinnern kann. Nur aus Hartnäckigkeit und treu meinem Schwur halte ich fest und fest. Wie lange noch?