7. Oktober – Das Auge des Sturms

ICH ist im Auge des Sturms.

ICH bin im Auge des Sturms.

ICH bin das Auge des Sturms.

Ohne den Sturm des Lebens, der Gefühle, des Dramas, der Herausforderungen wäre ICH nicht.

Ohne die in den Sturm stürzenden und vom Sturm mitgerissenen Elemente, ohne die herausgeschleuderten Partikel, ohne den Austausch wäre ICH nicht.

Ohne das Heulen und Lärmen, ohne die Kraft und Energie wäre ICH nicht.

Wenn die Hand sinkt, das Neuronenfeuer erstirbt, das Auge bricht legt sich der Sturm und ICH ist nicht mehr. Nicht messbar, nicht nachweisbar.

ICH ist das Auge des Sturms. Die Ruhe in der Zerstörung, die Stille im unermesslichen Klang des Seins.

6. Oktober – Langeweile

Nebel hängt über der Landschaft, kriecht am Horizont entlang, wallt kalt und feucht immer näher. Dieses graukalte, feuchte Wetter versetzt mich zurück in meine Kindheit. Lange öde Nachmittage voller Langeweile breiten sich in mir aus. Verzweifelte sich in endlose Länge dehnende Sekunden, Minuten, Stunden. Warten. Warten auf was?

Die Zeit verrinnt völlig sinnlos, wälzt sich auf ein Ereignis zu, das genauso unspektakulär ist wie dieser feuchtkalte Nachmittag allein im Zimmer. Der nicht schneller vergeht, weil ich aus dem Fenster starre.

„Mal doch was!“

„Beschäftige dich doch irgendwie“.

„Hast du keine Hausaufgaben?“

Manchmal sind alle Hausaufgaben gemacht, alle Bücher aus der Bibliothek ausgelesen, alle Bilder gemalt. Und dann diese Leere, diese lange Weile. Lang, lang, länger.

Fast hatte ich dieses quälende Gefühl vergessen. Heute erwachsen, busy, stets geschäftig, immer in Bewegung, allzeit bereit unterhalten zu werden oder zu unterhalten, keine Zeit, sowieso immer auf dem Sprung, voll im Stress, unabkömmlich und so wichtig, kommt heute kaum noch Langeweile auf.

Schade. Diese süße Qual! Vorbote einer Entladung, einer Explosion, einer Eingebung. Die Ruhe vor dem Sturm. Eine lange Weile, die sich ausbreiten und dehnen und mich leiden lassen darf.

5. Oktober – Das Bier ist aus

„Oh, endlich Feierabend.“ Sabine drückt mit beiden Händen ihr Kreuz durch. Alle Knochen tun ihr weh. Nach der Schufterei im Garten hat sie sich ein schönes Bierchen verdient.

Aber im Kühlschrank steht keins mehr. Der Kasten in der Speisekammer enthält nur leere Flaschen.

„Herbert!“, brüllt Sabine durchs Treppenhaus. Und noch lauter „Herbert!“

Keine Reaktion. Also schleppt sie sich die Stufen hoch unters Dach, in Herberts Reich. Dort stehen sein Schreibtisch mit Computer, seine H0-Eisenbahnanlage und sein großer Plasma-Fernseher mit Surround-Anlage und Spielkonsole. Er spielt gerade so ein beklopptes Spiel, bei dem er ständig Autos klauen und Leute liquidieren muss. Sabine seufzt. Herbert hört sie nicht, obwohl sie nur einen knappen Meter hinter ihm steht.

„Herbert!“, brüllt sie schließlich in voller Lautstärke. Herbert dreht seinen Kopf nur ein paar Grad in ihre Richtung. Wirft ihr einen kurzen Blick aus dem Augenwinkel zu.

„Was?“, fragt er. Sein Blick springt zurück auf den Fernseher und seine Hände bedienen weiter den Controller.

„Das Bier ist alle.“

Keine Reaktion.

„Wir hatten doch ausgemacht: Wer das letzte nimmt, schreibt dann Bier auf die Einkaufsliste.“

„Hab’ ich doch.“

„Hast du nicht, sonst hätte ich ja welches mitgebracht.“

„Vielleicht hast du’s vergessen.“ Die Polizei verfolgt Herberts Spielcharakter mit lautem Sirenengeheul. Sein Auto hat schon mehrere Beulen und bringt nicht mehr volle Geschwindigkeit.

„Verdammt! Das kommt davon, wenn du mich ablenkst.“

„Meine Güte, es gibt ja wohl ne Pausetaste. Kannst mir auch mal zuhören, wenn ich mit dir rede.“

„Es ist kein Bier mehr da. Und?“

„Du hättest es auf die Liste schreiben müssen!“

„Hab ich!“

„Hast du nicht!“ Herbert ist es gelungen, die Bullen abzuhängen, jetzt klaut er sich einen schnelleren Wagen.

„Musst du dauernd dieses bekloppte Spiel spielen?“

„Das ist geil!“

„Leute umnieten und Autos klauen. Toll. Da träumst du von, wenn du im Finanzamt Strafgebühren verhängst.“

„Ha, hab ich dich!“ Herbert stoppt ein vorausfahrendes Fahrzeug, indem er ihm mit seinem flotten Schlitten den Weg abschneidet. Den Fahrer knallt er kaltlächelnd ab. Sabine nimmt die Fernbedienung und schaltet den Fernseher aus.

„Menno!“

„Du fährst jetzt mit deinem Passat zur Tankstelle und kaufst mir Bier. Komm aber nicht auf die Idee den Tankwart abzuknallen.“

Herbert öffnet den Mund, schließt ihn dann aber wieder, als ihm Sabines Gartenkluft auffällt. Er senkt den Blick und geht an ihr vorbei zur Treppe.

„Brauchst du sonst noch was, Schatz?“

Sabine schüttelt den Kopf.

4. Oktober – Rosen

Rosen weiß und rot, die Dornen noch nicht weggezüchtet, stehen da in meiner Vase. Ich glaubte, ich holte mir Freude in mein Zimmer. Stolze Blumen, die mich erfreuen: rot und weiß. Aber nun sehe ich nur euer Welken und Vergehen. Ihr Rosen, geboren, um in Schönheit dahinzugehen.

3. Oktober – Königliche Hoffliegenfänger

Es war einmal vor langer Zeit ein königlicher Oberhoffliegenfänger, der hatte eine sehr, sehr wichtige Aufgabe. Er musste alle Fliegen, die sich in den königlichen Palast gewagt hatten, fangen und wieder nach draußen setzen. Der König wollte auf keinen Fall, dass einer Fliege Leids geschah. Er hasste es nur, wenn Fliegen über seine Kleidung, seine Haut oder womöglich über seine Nahrung liefen.

Aber am allermeisten verabscheute der König das fiese Summen und gemeine Brummen der Fliegen. Aus diesem Grunde beschäftige er nicht nur einen Oberhoffliegenfänger, sondern auch noch einen Unterhoffliegenfänger, zahlreiche Fliegenfängergehilfen und einen Fliegenfängerlehrling namens Maximilian. Der Oberhoffliegenfänger war für die Planung zuständig, er war der Kopf, der Ingenieur, der findige Geist. Nur gingen ihm langsam aber sicher die Ideen aus.

Längst hatte er die königliche Residenz mit Fliegengittern an Fenstern und Türen ausstatten lassen. In den großen Eingangsbereichen gab es Schleusen, um das Eindringen der Fliegen zu verhindern. Und überall im Haus gab es Lebend-Fliegenfallen, um die Fliegen zu fangen, denen es dennoch gelungen war, ins Schloss zu fliegen. Die Küche und das Schlafzimmer des Königs waren dreifach gesichert.

Aber der menschliche Faktor war ein nicht abzustellendes Übel. Immer wieder vergaß einer der Diener alle Vorsicht, ließ aus Bequemlichkeit beide Türen einer Schleuse geöffnet und schon sausten die kleinen Insekten hinein.

Da hatte der Lehrling Maximilian eine Idee. Wenn es doch einfach derart unmöglich sei, Fliegen vom Palast fernzuhalten, dann müsse der König einen Weg finden, sich mit den Fliegen zu versöhnen, sich an sie zu gewöhnen. Als das der Oberhoffliegenfänger hörte, gefiel ihm das überhaupt gar nicht. Wie sollte er sein Salär sichern, wenn der König keine Fliegenfänger mehr brauchte. Der Unterhofflliegenfänger und alle Fliegenfängergehilfen sahen das ähnlich und ergriffen Gegenmaßnahmen.

Mit anderen Worten: Sie verprügelten den armen Maximilian nach Strich und Faden, damit er ja schweige. Aber als der König Maximilians blaue Flecke und seine zerschlagene Nase sah und sich daraufhin erkundigte, was dem armen Jungen widerfahren sei, erzählte ihm der Fliegenfängerlehrling von seiner Idee und wie wenig sie den anderen Fliegenfängern geschmeckt habe. Da schwieg der König verblüfft.

Dann dachte er eine lange Weile nach, schließlich breitete sich ein Lächeln über sein Gesicht. Fortan schloss er Freundschaft mit den Fliegen, mit den dicken Brummern, den gemeinen Summern und den lautlos tanzenden Fruchtfliegen. Er ließ alle Fliegengitter und die Schleusen entfernen. Und er entließ den Oberhofflliegenfänger, den Unterhoffliegenfänger und alle Fliegenfängergehilfen.

Nur Maximilian behielt er bei sich als seinen Berater. Seit dieser Zeit gibt es keine königlichen Fliegenfänger mehr. Es ist also nicht sehr verwunderlich, wenn du noch nie von diesem Beruf gehört hast.

2. Oktober – Der Regenwurm

Es war einmal ein Regenwurm, der hatte ein regelmäßiges, manche würden sagen, eintöniges Leben.

Er fraß sich tagein, tagaus durch die Dunkelheit in der Erde. Nur wenn es stark regnete, so sehr, dass seine wunderbare Erdeinsamkeit abzusaufen drohte, kam er hervorgekrochen und versuchte, so gut er konnte, dem unerfreulichen Nass zu entgehen.

Viele seiner Artgenossen kamen bei Regenwetter an die Erdoberfläche und soffen dann in großen Pfützen ab. Manche wurden totgetrampelt, überfahren oder vom Vogel gepickt. Bisher hatte der Regenwurm alle Unbill überstanden und wurde immer dicker und länger und fraß und fraß sich durch die Unterwelt.

Dann eines Tages wurde er unsanft von einem Spaten in zwei Teile geschnitten und aus seinem Erdparadies herausgehebelt. Die Hälften des Wurms kringelten sich und wanden sich. Die eine immer noch tief in der Erde, die andere im Erdbrocken auf dem Spaten.

„Was ein dicker Wurm“, rief der Ausgräber und kippte den Erdaushub auf einen Haufen. „Gute Erde hier“.

Das dachten sich die beiden Hälften des Regenwurms auch und bemühten sich, so schnell wie möglich wieder in ihr zu verschwinden. Jede in entgegengesetzte Richtungen und für immer getrennt. Aber immerhin noch am Leben.

1. Oktober – Herbststurm

Herbststurm fegst übers Land, treibst Regen vor dir her, der laut gegen meine Fenster klatscht und auf den schwarzen Asphalt prasselt. Öffne ich das Fenster einen Spalt, dann höre ich dich heulen und stöhnen.

Ein großer Schwarm verspäteter Singvögel streicht über den Dachgiebel. Sammelt sich, dreht sich im Flug wie ein Leib. Die Birke oben am Ende der Straße beugt sich und schüttelt sich im Wind.

Entspannt ist mein Blick in den Sturm dort draußen. Warm mein Tee, mein Pullover, meine Socken. Dankbar sinne ich über tausende von Jahren an Erfindergeist und Ingenieurskunst, die mich im Trockenen diesem Schauspiel zusehen lassen.

30. September – 7schläfer

Es war 1mal 1 7schläfer, der lebte in 1 kl1en Waldstück bei 9kirchen. Jedes Jahr im Mai wurde auf der Wiese direkt daneben 1 großes Volksfest abgehalten.
Da war es furchbar laut. Vor allem das Kreischen der Leute, wenn sie auf der 8terbahn fast senkrecht nach unten stürzten, störte den 7schläfer. Außerdem rannten viele Kinder durch den Wald und sammelten Schnecken, Raupen oder Käfer, die sie in 1machgläser stopften.

Am liebsten hätte der 7schläfer diese Lauser ge4teilt, aber was konnte er schon ausrichten. Er war doch nur ein kl1er 7schläfer. Sogar die 11fen, die in den großen Wacholderbüschen am Waldrand lebten, waren völlig hilflos. Sie überlegten, ob sie sich nicht vielleicht für die Zeit des Volksfestes irgendwo eine 2raumwohnung mieten könnten. Aber da sie k1e Aufenthaltsgenehmigung besassen, war daran nicht zu denken.

So litten der 7schläfer und die 11fen stumm ganze 5 Tage lang. Sie ertrugen, dass sich ihre 10nägel bei jedem Kreischen nach oben bogen. Am 6. Tag hielten sie es nicht mehr aus und suchten Schutz in der kl1nen Kapelle unter der heiligen 3faltigkeit.

Aber anstatt hier endlich Ruhe zu finden, wurden sie von 6gierigen Jugendlichen gestört, die zwar weniger kreischten, dafür mehr stöhnten, aber insgesamt 1 unerträgliche Belästigung für die Ohren und die Moralvorstellungen von 7schläfer und 11fen darstellten. Am 7ten Tag kehrte endlich Ruhe 1.

Bis zum nächsten Jahr

29. September – Mir gäbet nix

„Mir gäbet nix“ –

Auf der Terrasse ist es kalt und nicht mehr viel los. Aber zwei Bekannte von Kerstin haben sich trotzdem dort ihr Abendessen servieren lassen. Kerstin und ich sagen „Hallo“.

Während Kerstin sich nach einem Zeitungsartikel über das Schülertheater-Festival erkundigt, wann der wohl online stehe, als PDF vielleicht, schaue ich in eine andere Richtung. Das Gespräch interessiert mich nicht besonders. Vor den Ferien habe sie nicht damit zu rechnen, erhält sie Bescheid. Aber eine gute Idee, da wäre wohl noch keiner drauf gekommen. Das mache dann der Peter oder der Franz.

Die Gittertür rechts von uns wird von einem jungen Mann mit einem Tarnrucksack über der Schulter aufgehakt. Vorsichtig betritt er die Terrasse. Seine Kleidung sieht ziemlich abgerissen aus. Im Gesicht hat er ein paar Piercings, seine Haare stehen zottelig vom Kopf ab. Durch die Hintertür betritt er das Lokal. Ich verliere ihn aus den Augen. Die Unterhaltung dreht sich inzwischen um ein abgesagtes Stück. Der Hauptdarsteller ist wegen Krankheit ausgefallen. Aber Kerstin muss es bis zum Sommer auf die Bühne bringen oder neue Lizenzkosten an den Verlag bezahlen. Plötzlich steht der junge Mann mit dem Tarnrucksack neben mir.
„Habt Ihr vielleicht ein paar Cent für einen Obdachlosen?“, fragt er in die Runde. Stille senkt sich über uns. Eine feindselige Schwingung fühle ich. Eine schwäbische Schwingung, die mir sagt: „Mir gäbet nix.“

Aber ich mag nicht dazugehören zu denen, die nichts geben. Warum soll ich dem Mann, dem Obdachlosen, der ein bisschen punkig, ein wenig ungewaschen aussieht und das Geld vielleicht versäuft oder für andere Drogen ausgibt oder am Ende mit Betteln mehr Geld verdient als ich mit meiner anständigen Arbeit, warum soll ich dem nicht ein paar Cent geben? Ein bisschen Kleingeld herzugeben tut mir doch nicht weh. Habe ich das Recht, über seine Lebensführung zu richten? Nein, natürlich nicht. Also zücke ich mein Portemonnaie. Viel ist nicht mehr drin, aber im Kleingeldfach finde ich noch etwas.

Irgendwer muss doch dafür sorgen, dass nicht nur die Spatzen, sondern auch die Menschen ernährt werden, auch ohne dass sie in den Scheunen sammeln. Oder habe ich das irgendwie falsch verstanden? Im Gegensatz zu Kerstin und ihren Bekannten gehöre ich keiner Kirche an und kenne mich nicht so gut mit den christlichen Gepflogenheiten aus.

27. September – „Lass die Arbeit ruhen“

„Lass die Arbeit ruhen“. In dem Roman „Hallo lieber Gott, hier spricht Anna“ war es, glaube ich, dass die Hauptfigur, die kleine Anna sagte, die tollste Erfindung von Gott sei der Ruhetag.

Und irgendwie ist was dran – auch für die Agnostiker unter uns ist das Ausruhen eines der schönsten Errungenschaften der Menschheit. Ich frage mich nur, warum haben wir das überhaupt verlernt, vorher?

Vom Ahorn bis zur Zichorie, vom Affen bis zur Zecke wissen alle Lebewesen wie wichtig Ruhe und Entspannung ist. Aber wir dusseligen Menschen haben das irgendwann vergessen. Und so gibt es heute so merkwürdige Krankheiten wie Burn-out-Syndrom.

Dabei müssen wir nur einmal in aller Ruhe draußen spazieren gehen, den Pflanzen und den Tieren zuschauen. Die lassen sich Zeit. Hetze ist nämlich ganz schlecht für die Lebensqualität.

26. September – Wende die Welt

Wende die Welt einmal um, wie du Taschen umstülpst und sieh, was herausfällt.
Bunte Blätter und junge Katzen, ein paar Sonnenstrahlen und feuchtes Gras, Kieselsteine und Stroh, ein kleines Haus mit roten Dachziegeln, eine Herde Schafe und der Schäfer dazu mit seinen Hütehunden. Seine Pfeife qualmt noch, ein wenig durchgerüttelt und zerzaust stützt er sich schwer auf seinen langen gebogenen Stab um wieder auf die Beine zu kommen.

Dann rieselt und bröckelt Muttererde hervor und formt sich fast wie von selbst zu großen Äckern mit Furchen, die Saat setzt sich in Reih‘ und Glied selbst dort hinein. Ein paar Bäume rutschen nach, wenn du noch ein wenig schüttelst, ein Stoppelfeld von Mais und Büsche und Vögel, Krähen und Elstern. Wütend keckern sie über die üble Behandlung und ganz am Schluss kullerst du selbst heraus und irgendwie ist alles wie zuvor nur ganz anders.

Merkst du es schon?

25. September – Ogülko

Ogülko war ein wunderschönes Mädchen. Ihre Mutter Japanerin, der Vater Deutscher. Ein wundersamer Zufall hatte ihr nur die besten Eigenschaften beider Eltern verliehen. Und so war sie nicht nur wunderschön, sondern auch klug und fleißig.

Ogülko konnte gar nichts dafür, aber überall wo sie hinkam, war sie der Star. Wenn sie den Raum betrat, strahlte plötzlich der ganze Raum. Die Männer vergaßen, was sie sagen wollten und meistens auch den Mund wieder zuzuklappen, die Frauen zuckten entweder mit Augenbrauen und Schultern und taten gleichgültig oder erlagen sofort Ogülkos Charme und suchten ihre Nähe, ihr Strahlen, ihre Freundschaft und Liebe.

Auf Ogülko hatte dieses Verhalten der anderen Menschen auf sie eine unerwartete Wirkung. Es machte sie unglücklich. Oft hatte sie das Gefühl, die Menschen sähen nur das wunderschöne Bild von ihr und nicht sie selbst. So sehnte sich Ogülko verzweifelt danach, endlich erkannt zu werden. Jeden Morgen bat sie darum, dass endlich jemand erkennen möge, wer sie wirklich ist. Eines Tages ging sie durch die Fußgängerzone. Die Menschen reagierten wie immer auf sie. Die Männer drehten die Hälse, die Frauen auch oder sie schauten demonstrativ woanders hin, zupften ihren Begleitern am Ärmel und machten abfällige Bemerkungen.

Aber etwas war doch anders diesmal. Ogülko konnte es anfangs nur spüren. Und dann sah sie es. Dort am Wegesrand saß eine alte Frau in einem weiten Mantel mit einem schwarzen Hund neben sich und schaute Ogülko mitten ins Herz. Ogülko blieb stehen, dann machte sie ein paar Schritte und setzte sich im Schneidersitz der Frau gegenüber auf den Boden. Die Blicke der Menschen um sie herum erloschen plötzlich, die Menschen gingen wieder ihres Weges, als existiere sie gar nicht. Ogülko atmete auf und lächelte die alte Frau an. Die nahm Ogülkos Hand und sagte zu ihr:

„Hab keine Angst, meine Kleine, du wirst noch viele Menschen treffen, die dich erkennen wollen. Dir mag es vielleicht so erscheinen, dass nur du auf einen Aspekt deiner Persönlichkeit reduziert wirst und das an deiner Schönheit liegt. Aber das widerfährt einem jeden. Schau, dieser Mann dort im teuren, blauen Anzug mit seinem Aktenkoffer, wie er eilig aus der Mittagspause zurück ins Büro eilt. Würdest du glauben, dass er nachts elegische Gedichte schreibt und an den Wochenenden regelmäßig Frau und Kinder prügelt? Oder hier, diese Frau, du würdest sie für arm und unglücklich halten in ihren abgerissenen Kleidern. Aber sie ist eine große Künstlerin, sie ist voller innerem Reichtum und nicht nur das, sie ist sogar wohlhabend, hat eine Familie, ein großes Haus, ist umgeben von Menschen und Dingen, die sie liebt. Nur Kleidung ist ihr gleichgültig, sie läuft immer noch herum wie eine ewige Studentin. Es wird Zeit, dass du durch die erste Reaktion der anderen Menschen auf deine Erscheinung hindurchschaust. Lerne die anderen richtig zu sehen und du wirst merken, dass auch du erkannt wirst.“

Ogülko dachte eine Weile über die Worte der alten Frau nach. Dann nickte sie. Plötzlich bemerkte sie, dass die Frau eine gelbe Binde am Ärmel trug mit drei schwarzen Kreisen darauf zu einem Dreieck angeordnet. Der schwarze Hund neben ihr trug das Geschirr eines Blindenhundes. Überrascht schaute sie der alten Frau in die trüben, grauen Augen.

„Und doch siehst du alles!“, flüsterte Ogülko.