20. März – Frühlingserwachen

Frühlingserwachen. Dort stehe ich also auf der Bergkuppe, nun gut Hügelkuppe und schaue weit hinaus ins Tal. Hingebreitet liegt es da, die hellgrünen Spitzen der Gräser brechen langsam durch, kleine Blumen wachsen rechts und links neben mir unter den Bäumen und ich frage mich, wie die eigentlich heißen. Vielleicht Himmelsglöckchen und Silbersternchen, so sehen sie jedenfalls aus.

Am allermeisten spüre ich dieses Frühlingserwachen in mir selbst. Noch gebremst, noch zügele ich mich, aber mein Motor brummt, gut geölt und gewartet, der Turbolader eingeschaltet und der komplette Motor getunt.

Ein paar Mal lasse ich meinen inneren Motor aufheulen, aber noch ist der erste Gang nicht eingelegt. Ein paar Vorbereitungen sind noch zu treffen vor der großen Reise dieses Jahres.
Aber dann, wenn es losgeht, werde ich fahren, fahren, fahren und nur bremsen um niemandem zu schaden und nur anhalten um Kraft zu tanken.

Ich freue mich, bald geht es los.

19. März – Horatio gewinnt keinen Preis

„Hallo du Muse, knutsche mich gefälligst!“, ruft Horatio laut, aber keine Muse hört ihn.
Ach nein, wieder einmal fällt ihm nicht ein, was er dieses Jahr bei dem Wettbewerb für den leckersten Kuchen beim Osterpicknick einsenden soll.

Er hat schon viele Kuchen getestet, aber in den meisten Fällen endete es damit, dass die Testpersonen spuckten und ihm empfahlen, den Kuchen lieber nicht einzureichen. Einer wollte ihn sogar verklagen.

Der war einmal sein bester Freund gewesen. Bevor Horatio ihm seinen Kuchen zum Kosten gegeben hatte.

„Undank ist der Welten Lohn“, murmelt Horatio vor sich hin.

Wenn sein Ehrgeiz erst einmal angestachelt ist, dann kann nichts ihn aufhalten, auch nicht die Tatsache, dass er vom Backen rein gar keine Ahnung hat und seine Geschmacksknospen längst verödet sind.

Natürlich, er hätte wie jeder normale Mensch einfach ein Backbuch lesen oder jemanden fragen können, der sich damit auskennt.

Aber das ist Horatio eben am allerwenigsten: Normal.

Also plagt er sich mit seinen Kuchen-Kreationen im Freistil ab.

Die sehen auch wirklich toll aus.

Was die Optik angeht, da ist Horatio Spitze.

Nur der Geschmack ist seine Achillesferse.

Leider, leider werden die Kuchen nicht nur angesehen, sondern auch probiert.

Das heißt, die Juroren riechen daran und stecken sie sich sogar in den Mund.

Sie bewerten zu Horatios Unglück vor allem den Geschmack. Das Aussehen ist nur das i-Tüpfelchen.

Dieses Jahr, dieses Jahr musste es ihm endlich gelingen.

Horatio rauft sich die Haare. Aber auch das nützt nichts.

„Hätte ich doch bloß auf meine Mutter gehört“, seufzt er und wirft eine weitere toll blinkende, aber stinkende Kuchenkreation in den Mülleimer.

18. März – Mia

Die Stiefel sind geschnürt, der Rucksack gepackt. Endlich kann es losgehen. Ein Jahr Kanada, raus in die Wildnis. Mia weiß nicht, wie sehr sie das verändern wird. Sie weiß nur eines: Ihre große Gabe, ihre sirenenhafte Stimme wird sie auch dort gebrauchen können.
Sie wirft einen letzten Blick auf das alte Jugendzimmer im Haus ihrer Eltern. Sie weiß, dass sie niemals mehr dorthin zurückkehren wird. Ein bisschen wehmütig wird ihr schon ums Herz.

Aber da lockt doch viel zu sehr das Neue, das Unbekannte. Mia schultert ihren Rucksack und geht die Treppe hinab. Ihre Eltern stehen im Flur.

Ein letztes Lebewohl, natürlich weinen jetzt doch alle.

Dann öffnet Mia die Tür und tritt hinaus. Das Taxi wartet, dass sie zum Flughafen bringt. Ihren großen Rucksack wirft sie in den Kofferraum, steigt ein, winkt noch ein letztes Mal und schaut nicht zurück.

Kanada wartet.

Ein dickes Grinsen breitet sich über Mias Gesicht aus.

Übrigens kehrt Mia erst nach zehn Jahren aus Kanada zurück, nachdem sie sich dort als Opernsängerin etabliert hat.

Dann wird sie die zweite Bundeskanzlerin Deutschlands und später die erfolgreichste Marktschreierin der Welt.

17. März – Die Stimme

Als Mia größer wurde, blieb die Stimme ihre gefürchtetste Waffe. Als sie in den Kindergarten kam und eines der Kinder trat nach einem anderen oder nahm ihm ein Spielzeug fort, dann heulte Mia wie eine Sirene.

Später, als Mia älter wurde, sagte sie dem anderen Kind zuerst, es solle sich entschuldigen oder das Spielzeug zurückgeben. Aber wenn das Kind nicht hörte, dann setzte Mia Ihren gefürchteten Sirenenheulton ein.

Die Erzieherinnen sprachen mit Mias Eltern.

Mia sollte mit dem Heulen aufhören. Aber Mia dachte nicht daran.

Sie sagte: „Wenn keiner etwas Ungerechtes und Gemeines tut, dann heule ich auch nicht.“
Und das stimmte ja auch.

Eines Tages gab es eine staatlich verordnete Prüfung, um zu testen, wie klug die Kinder im Kindergarten waren, welche Sprachkompetenz sie besaßen. Es sollte festgestellt werden, ob sie eine besondere Förderung benötigten. Den Kindern wurden dabei lauter dumme Fragen gestellt.

Mia hörte eine Weile zu. Zuerst verschränkte sie die Arme vor der Brust. Dann kniff sie böse die Augen zusammen und presste die Lippen aufeinander. Schließlich warnte sie den Prüfer.

„Ich habe Dir jetzt eine ganze Zeit zugehört. Du stellst gemeine und dumme Fragen. Wenn Du nicht damit aufhörst, wirst Du es bereuen.“

Der Prüfer schaute Mia einen Augenblick verblüfft an. Schüttelte dann irritiert lächelnd den Kopf. Eine Erzieherin hatte schon den Mund geöffnet.

Aber der Prüfer hatte sich wieder an Fabian gewandt: „Beantworte bitte meine Frage!“
Da begann Mia zu heulen.

Die Erzieherin zog sie aus dem Raum und brachte sie in den Keller.

Aber es nützte nichts. Mia heulte so laut, dass der Prüfer sein eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte. Er musste die Prüfung abbrechen.

Sobald der Prüfer das Haus verlassen hatte, hörte Mia auf zu heulen.

Der Prüfer traute sich niemals wieder in Mias Kindergarten.

16. März – Mias Geburt

Am Tag von Mias Geburt verdunkelte sich die Sonne. Nur für wenige Minuten. Es war ein großes Spektakel. Schließlich gab es nicht jedes Jahr eine totale Sonnenfinsternis, die in Mitteleuropa sichtbar war.

Mias Mutter allerdings interessierte sich überhaupt nicht für die Sonnenfinsternis, auch nicht für andere Dinge, die außerhalb ihrer selbst geschahen. Mias Mutter war voll und ganz damit beschäftigt Mia durch den Geburtskanal auf die Welt zu pressen und dabei irgendwie die Schmerzen zu ertragen.

Zum Glück dauerte die eigentliche Geburt nicht sehr lang und als die Sonne wieder in vollem Licht erstrahlte und die Hobbyastronomen und sonstigen Gaffer sich gerade wieder die schwarzen Sonnenbrillen von der Nase genommen hatten, konnten sie in weiter Ferne das Brüllen von Mia hören.

Denn Mia konnte sehr laut brüllen – und ausdauernd. Also brüllte Mia – laut und ausdauernd.
Mia hörte nur damit auf, wenn sie an der Brust ihrer Mutter liegen konnte.
Überhaupt war Mia ein sehr eigenwilliges Kind.

Passte ihr etwas nicht, dann brüllte sie.

Und wenn ihr etwas gefiel, dann strahlte sie übers ganze Gesicht – vom Tag ihrer Geburt an.
Und wenn Mias Eltern nachts wieder einmal nur wenig Schlaf fanden, dann trösteten sie sich damit, dass ihre Mia ein ganz besonderes Kind sein musste und aus ihr gewiss einmal etwas Großes werden würde: eine Opernsängerin, Bundeskanzlerin oder doch wenigstens die erfolgreichste Marktschreierin der Welt.

15. März – Auf dem Weg

Johann war so müde. Warum musste er denn immer noch laufen, immer noch auf dem Weg entlangtrotten. Seine Füße schmerzten so sehr. Bei jedem Schritt fühlte er einen Stich in der Fußsohle. Die rechte Ferse brannte. Und in seinem linken kleinen Zeh hatte er einen Krampf.

Ein bisschen schwankte er beim Dahintrotten. Nur der Glaube, dass er bald ankommen müsse, hielt ihn aufrecht.

Er hob seinen Blick, der die ganze Zeit über auf den staubigen Weg gerichtet gewesen war.
Lichtpunkte tanzten vor seinen Augen. Er brauchte eine Weile, um das Haus dort vorn im gleißenden Sonnenlicht zu erkennen. Aber es war noch dort und es war tatsächlich ein kleines Stückchen näher gerückt. Aber doch viel weniger, als er erhofft und erwartet hatte.

Warum sich nicht einfach hinwerfen und nicht mehr aufstehen. Es hatte sowieso keinen Sinn. Was wollte er dort? Keiner hatte ihn eingeladen. Am Ende schlugen sie ihm die Tür vor der Nase zu. Und dann? Der ganze weite und anstrengende Weg wäre dann umsonst gewesen.

Natürlich. Das wäre er auch, wenn er sich einfach hier an den Wegesrand legte und aufgab.
Also raffte sich Johann auf und ging weiter.

Ein Schritt und noch ein Schritt. Rechts, links, rechts, links.

Das Haus war immer noch soweit entfernt. Vielleicht sollte er nur eine kleine Pause einlegen. Ganz kurz sich setzen. Nur kurz die Schuhe ausziehen. Vielleicht würde dann das Stechen in der Fußsohle und der Krampf im linken Zeh aufhören.

Johann war sich nur nicht sicher, ob er dann jemals wieder hochkäme.

Wie war er nur auf diese dumme Idee verfallen? Alle anderen blieben schön zu Hause, wie es sich gehörte, gingen ihrer Arbeit nach, kümmerten sich um ihre Familien, wurden irgendwann alt und starben.

Aber er, er musste ja unbedingt von diesem Haus träumen. Er musste ja unbedingt dorthin gelangen wollen. Warum eigentlich? Das hatte er vergessen.

Er wusste nur noch, dass er Schmerzen hatte, dass er müde war, dass er am liebsten einfach aufgeben würde.

Aber nein. Wieder hob er den Blick. Dort leuchtete es am Horizont. Weiß und strahlend. Ein bisschen sah es aus, als würde es ihm zuzwinkern.

„Na komm schon, ich warte auf Dich!“

Also straffte Johann die Schultern und ging weiter auf sein ungewisses Ziel zu.

14. März – Die alte Akustikgitarre

Im Keller steht eine alte Akustikgitarre mit Stahlsaiten. Sie ist schon etwas verbeult. Sie klingt auch nicht besonders gut. Irgendjemand hat einen grässlich aussehenden Aufkleber auf den Korpus geklebt. An der Kante ist der Lack abgesplittert. Vielleicht wird irgendwann einmal jemand in diesen Kellerraum kommen, die Gitarre sehen, sie am Hals packen und ihr ein paar Töne entlocken.

Dann wird er sie wieder fortstellen oder zu dem Entschluss kommen, dass diese Gitarre auf den Sperrmüll gehört, wie all die anderen alten und überflüssigen Dinge im Keller. Der kaputte Radiorekorder, die alte Wäschetrommel, die vergessenen Schallplatten mit Kindermärchen, die bunten Stofftiere, die Sammlung von Schrauben, die alten Gartenscheren, die Kiste mit einzelnen Arbeitshandschuhen, von denen keine zwei zusammenpassen.

Aber vielleicht wird derjenige auch den alten Küchenstuhl mit den Farbklecksen hervorziehen, sich daraufsetzen, die Gitarre sanft auf sein Knie legen, die Saiten stimmen und dann ganz sanft eine wunderschöne Melodie aus diesem alten, vernachlässigten Kasten hervorzaubern. Alles ist möglich.

13. März – Die Uhr tickt

Die Uhr tickt.

Heute beruhigt mich das sehr. Dieses stetige Geräusch gibt mir die Gewissheit, dass alles seinen Gang geht, alles in Ordnung ist, die Welt sich weiterdreht.

Alles ist gut.

Die Uhr tickt.

Heute nervt mich das sehr. Kann es nicht still sein, ganz ohne Rauschen und Ticken und Atmen von der anderen Bettseite. Ich möchte endlich schlafen, endlich Ruhe!
Alles ist unerträglich.

Die Uhr tickt.

Heute bemerke ich das gar nicht. Die Geräusche um mich herum sind so laut und vielfältig. Dort erklingen Stimmen von meinen Gästen, ein Lachen sticht hervor. Musik perlt aus den Lautsprechern wie der Sekt in den Flöten. Ach wie wunderbar.

Alles ist Swing.

Die Uhr tickt.

Warum denn nur so schnell? Ich habe es so eilig, zu viel zu erledigen in viel zu wenig Zeit. Wer hält denn diese erbarmungslosen Zeiger an? Zurückdrehen sollte ich sie. Aber das ändert gar nichts.

Alles ist Eile.

Die Uhr tickt.

Sehnsuchtsvoll schaue ich aus dem Fenster. Wann kommst Du denn endlich. Ich warte und warte. Die Sekunden dauern Stunden. Kann diese Uhr nicht schneller gehen oder Du endlich zurück sein, damit ich Dich in meine Arme schließe?

Alles ist Ungeduld.

Die Uhr tickt.

Da liegst Du, das letzte Mal sehe ich Dein liebes Gesicht. Ich erkenne Dich noch, aber Du bist mir schon entrückt. Einmal noch halte ich Deine Hand und fürchte mich ein wenig dabei. Sie ist so kalt. Haut darf sich nicht so kalt anfühlen.

Alles ist Abschied.

12. März – Der Osterhasen-Streik

Anfang März stimmten die Mitglieder der Gewerkschaft der Osterhasen GDO in ihrer Urversammlung für Streik, die Verhandlungen waren gescheitert, die Friedenspflicht vorbei. Nun folgte der Kampf.

Dabei waren die Forderungen der GDO gar nicht so unverständlich. Die Osterhasen verlangten lediglich ein Verbot für den Verkauf von Schokoladenostereiern, Schokoladenosterhasen und sonstigem österlichen Naschwerk vor Beginn der Karwoche.
Außerdem sollte das Verstecken von Eiern allein das Privileg der staatlich geprüften Osterhasen bleiben und nicht von jedem Krethi und Plethi ausgeübt werden dürfen. Es wurden in den letzten Jahren bereits Piccolos und Zigarettenstangen in Osternestern entdeckt. Solche Ostergaben waren selbstverständlich völlig unakzeptabel und sollten in Zukunft vermieden werden.

Außerdem verlangten die Mümmelmänner eine Mohrrübenerhöhung um 10 %.
Leider hörte keiner auf sie.

Die Öffentlichkeitsarbeit der GDO war nicht so besonders modern. Die armen Hasen kannten nur altmodische Schreibfedern oder aufwändigen Kartoffeldruck. Deshalb erreichten die sorgfältig getexteten Mitteilungen die Öffentlichkeit leider zu spät.
Die Arbeitgebervertreter nahmen die Osterhasen nicht Ernst.

So kam es, dass am Ostermorgen zahlreiche Nester leer blieben. Nur wenige Streikbrecher hatten versucht, wenigstens das Osterfest zu retten, aber es gelang ihnen nicht.

Kinder weinten, Eltern fluchten und Politiker traten zurück. Sogar der Papst geriet in arge Bedrängnis. Er wurde mit wütenden Rufen empfangen, als er seinen Segen Urbi et Orbi erteilen wollte.

Dies war dann doch zu viel. Den Forderungen der GDO wurde stattgegeben.

Erst seit dieser Zeit wird das Osterfest wieder genauso ursprünglich gefeiert, wie es einmal gedacht war.

11. März – Georg

Georg schließt die Wohnungstür auf. Energisch scharrt er mit den Fußsohlen über die Fußmatte, bevor er in den Flur tritt. Es ist sehr still. Er hört nur das Plätschern des Wasserfilters im Aquarium, in dem nur zwei einsame Fische in einem Wald von Wasserpflanzen schwimmen.

Georg stellt seine Tasche an der Garderobe ab, zieht die Schuhe aus und schlüpft in bequeme Pantoffeln.

In der Küche steht noch die gespülte Kaffeetasse von heute Morgen auf dem Abtropfbrett. Eine Fliege sitzt auf der Gardinenstange am Fenster und hat aufgegeben mit dem Kopf durch die Scheibe zu kommen.

Aus dem Kühlschrank holt Georg eine Portion Fertigessen. Er reißt die Kartonage ab, sticht ein paar Mal mit einem scharfen Messer in die Deckelfolie und stellt die Schale in die Mikrowelle.

Dreieinhalb Minuten.

Besteck aus der Schublade nehmen, Teller aus dem Schrank holen.

Georg richtet seinen Teller auf dem Platzdeckchen sorgfältig aus. Die Rose muss nach oben zeigen. Dann Messer und Gabel, ein Bierglas, Serviette. Die Mikrowelle brummt immer noch.

Georg geht zum Fenster.

Die Fliege fliegt wild durch den Raum, surrt dabei unangenehm laut, schlägt ein paar Mal gegen die Scheibe. Dann wieder Stille. Vor dem Fenster liegt die Straße ruhig da. Kein Nachbar zu sehen, auch keine Katzen heute, keine Elstern, keine Rabenkrähen. Der Himmel ist blau mit ein paar Schleierwolken.

Die Mikrowelle schaltet sich ab und piept.

Mit Topflappen holt Georg die Schale heraus, zieht die Deckelfolie ab und richtet Kasseler, Kartoffelpüree und Sauerkraut auf seinem Teller an. Dann holt er eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, öffnet sie, gießt sich ein. Den Kronkorken wirft er gleich fort, ebenso die Plastikschale. Dann setzt er sich.

Die Uhr springt um. 17.30 Uhr.

Georg greift zu Messer und Gabel. Bedächtig schneidet er den Kasseler Braten in kleine quadratische Stücke.

Dann spießt er ein Quadrat auf, führt die Gabel zum Mund und hält inne.

Seine Hand sinkt kraftlos auf den Tischrand.

Das Muster auf der Tapete verschwimmt vor seinen Augen, eine Träne findet ihren Weg am Nasenflügel entlang zu seinem Mundwinkel. Dann blinzelt er, wischt die Tränen mit der Serviette weg, strafft die Schultern und beginnt systematisch zu essen.

Die Uhr tickt.

10. März – Die Eidechse

Eine kleine, grünbraune Eidechse kriecht aus einem Haufen welker Blätter auf ihren grünen, luftigen Sonnenplatz. Oh, wie wohl das tut die kalte Starre der Nacht abzuschütteln.

Da gibt es plötzlich ein merkwürdiges Geräusch. Seltsame Erschütterungen spürt das Reptil, spannt sich an und lauert. Noch ist die Wärme der Sonnenstrahlen viel zu verlockend und wohltuend. Dann aber sieht es etwas Merkwürdiges auf sich zukommen, es ist groß und schwarz und spiegelnd.

Es klickt auch immer so merkwürdig.

Immer näher kommt dieses große spiegelnde Ding.

Die Eidechse tritt den Rückzug an. Langsam schlängelt sie sich davon, klettert über welke Blätter, verschwindet unter einer Grasnarbe, passiert dabei Sonnenstrahl um Sonnenstrahl, um schließlich im Dunkel des Dickichts zu verschwinden.

Aber kurz darauf ist die Luft wieder rein. Das komische Ding ist fort.

Ach, wie wohl die Sonnenwärme tut nach einem solchen Schreck!

9. März – Lektion im Geistwandeln

Geistwandeln kann jeder Mensch, wenn er es will. Das ist der wichtigste Teil der Lektion: Akzeptieren, dass es völlig normal ist.

Geistwandeln ist nur ein möglicher Begriff. Andere nennen es auch Klarträume oder Levitation. Sicherlich gibt es noch viele Worte für das, was jeder Mensch in seinen Träumen erlebt und schnellstens wieder vergisst.

Weil sich die Welt verschiebt, weil die Linie zwischen Wachheit und Traum, zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen normal und völlig unmöglich verschwimmt.

Wir hangeln uns an dieser Linie entlang wie an einem Halteseil auf unwegsamer Strecke. Vielleicht könnten wir gefahrlos nach links nach rechts nach oben nach unten wechseln, aber wir wagen es nicht, weil die Gewohnheit unsere Sinne vernebelt.

Träumst du jetzt? Diese Frage stelle dir täglich mindestens zehn Mal. Stelle sie dir in allen möglichen Situationen. Das ist der zweite Teil der Lektion: Übung.

Übe zu zweifeln, das wird dir helfen, auch im Schlaf, im Traum zu zweifeln. Lerne dann, deine Träume zu beeinflussen. Manchen Menschen fällt das leicht, anderen schwer. Übe es unablässig, jede Nacht träumst du.

Erkenne deine Träume und reise in ihnen, bestimme selbst den Weg, den Ort, die Handlung. Das ist der dritte Teil der Lektion.

Erst wenn du ihn beherrschst, dann beginne mit dem vierten Teil der Lektion. Frage dich am Tage: Bin ich wach? Erkenne Deine Wachheit und reise in ihr, bestimme selbst deinen Weg, den Ort, die Handlung. Sei achtsam mit deinen Wünschen, denn sie erfüllen sich unaufhörlich. Sei Meisterin über dein eigenes Leben.

Das sei nicht möglich?

Ja, klar! Träum weiter, meine Liebe, und schlafe süß.