1. April – Das gute Ende

Als Gerda klein war, da hat sie immer von ihrer Oma gehört: „Mit dir wird es mal ein schlimmes Ende nehmen!“

Was genau dieses schlimme Ende sein sollte, das wusste Gerda nicht. Vielleicht änderte sich das Szenario des schlimmen Endes auch ständig. Aber in jedem Fall prophezeite die Oma fleißig und unablässig das schlimme Ende.

Als Gerda älter wurde, da bemühte sie sich redlich, dieses schlimme Ende zu finden. Sie probierte eine Menge aus. Sie stieg heimlich aus dem Fenster, rutschte die Regenrinne hinab und fuhr mit ein paar Freunden auf dem Moped in die Disko.

Natürlich schwindelte sie über ihr Alter, um eingelassen zu werden, und manchmal war sie auch ganz doll verliebt in einen der Jungen. Aber meistens war das der, der ausgerechnet von ihr nichts wissen wollte. Dann weinte Gerda und fragte sich, ob dies vielleicht das schlimme Ende sei. Aber nein.

Das Leben ging einfach weiter und die Mopeds wurden zu Motorrädern dann zu Autos. Irgendwann da empfahl ihr Lehrer, sie solle doch unbedingt weiter zur Schule gehen, sie sei doch so ein gescheites Mädchen.

Da drehte Gerdas Oma fast durch. Das schlimmste aller schlimmen Enden musste bevorstehen, wenn das Kind wider die göttliche Ordnung nicht in den Haushalt oder in die Landwirtschaft ging, sondern weiter zur Schule. Bildung war Teufelszeug und das hatte bisher noch jedem geschadet.

Als Beispiel führte die Oma immer ihren Bruder Theobald an, der immer seine Nase in die Bücher gesteckt habe und deshalb an der Schwindsucht gestorben sei. Gerda konnte zwar keinen Zusammenhang feststellen, wusste aber aus Erfahrung, dass ihrer Großmutter mit logischen Argumenten ohnehin nicht beizukommen war.

Schließlich erzählte sie der Oma, dass es in der modernen Landwirtschaft unabdingbar sei, einen guten Schulabschluss zu haben. Das leuchtete der Oma dann fast ein und sie reduzierte ihre Weissagung auf ein lediglich schlimmes Ende wie gewöhnlich.

Also durfte Gerda weiter die Schule besuchen. Sie machte als allererstes Mädchen in ihrem Dorf Abitur und anstatt danach endlich in die Landwirtschaft oder einen Haushalt zu gehen, wie es die Oma nun wirklich erwartet hatte, zog das Mädchen in die Stadt und besuchte eine Universität. Der Oma war das völlig unverständlich, das konnte ja nur mit einem frühen Tod enden, wenn ein Mädchen ständig die Nase in die Bücher steckte.

Aber es kam noch viel schlimmer. Gerda arbeitete hart und wurde tatsächlich dank Ihres Fleißes und der finanziellen Unterstützung durch ein Stipendium schließlich eine Ärztin der Medizin.

Sie arbeitete an einem Krankenhaus.
Und die Oma war sich sicher, dass dies nun aber ganz bestimmt zu einem schlimmen Ende führen musste.

Was dort alles für Keime herumschwirrten, diese kranken Menschen, das war doch gefährlich.

Aber Gerda schien das alles mit Links zu meistern. Sie lernte einen netten Mann kennen, bekam zwei Kinder, arbeitete weiter, ließ sich schließlich als praktische Ärztin nieder und führte ein angesehenes und glückliches Leben.

Nun lauerte Gerdas Oma darauf, dass vielleicht die Kinder missrieten oder die Ehe ihrer Enkelin scheitern würde.

Aber nichts, außer den üblichen Wehwehchen fehlte keinem etwas.

Ganz im Gegenteil, Gerda nahm schließlich die Oma zu sich, als sie nicht mehr allein leben konnte und sich nicht mehr allein zurechtfand.

Eines Nachmittags als die erste Frühlingssonne gerade so schön durch das große Fenster im Wohnzimmer hereinschien, da tastete die Oma nach Gerdas Hand und sagte:
„Ach, Du bist so ein gutes Mädchen, das habe ich ja schon immer gesagt. Ende gut alles gut!“

31. März – Antonio Fatalusi

„Guten Tag, mein Name ist Antonio Fatalusi“, sage ich und langweile mich unsäglich dabei. Den ganzen Tag kommt ein Call nach dem anderen rein und ich höre mir die immer gleichen Geschichten an.

„Wo bleibt mein Paket, ich brauche es dringend, es ist ein Geburtstagsgeschenk, mein neues Mobiltelefon, mein Receiver, meine Schuhe,…“ oder „Der Zusteller hat nicht geklingelt, ich war den ganzen Tag zu Hause und jetzt finde ich eine Benachrichtigungskarte im Briefkasten, dass ich die Sendung MORGEN in der Filiale abholen kann, ich brauche das Paket aber HEUTE.“

Und ich gebe die immer gleichen Antworten: „Das tut mir leid, ich nehme eine Laufzeitbeschwerde für Sie auf“ oder „Entschuldigen Sie bitte, so sollte der Zusteller nicht arbeiten, ich werde eine Beschwerde aufnehmen, die an dessen Vorgesetzten weitergeleitet wird.“

Dann diskutieren die Leute meistens mit mir und ich stelle sie mit den immer gleichen Phrasen zufrieden oder auch nicht. Die Hauptsache ist, sie legen schnell wieder auf, denn unsere Durchschnittszeit soll nicht länger als zwei Minuten zwanzig Sekunden dauern. Mehr als sechs Wochen mache ich nun diesen Job und wenn ich mich nicht gerade unsäglich gelangweilt fühle, amüsiere ich mich über die Ironie meiner Lage.

Hier in diesem Call Center ist alles auf ‚Geheimdienst‘ getrimmt. Die Mitarbeiter am Telefon heißen Call Agent. Da ich erst sechs Wochen dabei bin, bin ich ein Junior Agent, meine direkten Vorgesetzten sind die Senior Agents. Es gibt einen Helpdesk und ein Back Office und Special Agents für Premiumkunden.

Lustigerweise bin ich wirklich Geheimpolizist und mein Vorgesetzter, der einfach nur ‚Chef‘ heißt bei uns, hat mir diesen Undercover-Einsatz verschafft, nun ich sollte wohl lieber sagen, aufs Auge gedrückt. Angeblich würden hier in diesem Call Center Aufträge des organisierten Verbrechens telefonisch weitervermittelt, natürlich in einer kodierten Sprache. Aber ich glaube langsam, dass uns da irgendjemand einen Bären aufgebunden hat und die Leute tatsächlich nur wegen langweiliger Pakete anrufen und damit nicht irgendwelche ‚Pakete‘ gemeint sind, also eine Fuhre Drogen, Waffen, Zwangsprostituierte oder Geld aus solch kriminellen Geschäften für die große Wäsche. Und falls es doch solche Anrufe gibt, dann landen die jedenfalls nicht bei mir.

Mein Chef sagt mir: „Hab‘ Geduld Antonio, stell dich vernünftig an, mach‘ dich unentbehrlich, überzeuge sie davon, dass man dir vertrauen kann, finde heraus, wie diese ganze Sache läuft und ich vergesse, wie dumm du dich bei deinem letzten Einsatz angestellt hast.“

Nun ja, das ist der Haken, mein letzter Einsatz. Den habe ich total versemmelt. Ziemlich peinliche Angelegenheit, an die ich mich ungern erinnere.

30. März – Faux Pas

Faux Pas. „Sieht ja aus wie in nem Schwulenladen hier!“, sage ich.

Einen Moment später höre ich sogar durch den plärrenden Lärm der Musik aus meinen Kopfhörern das betretene Schweigen meiner Reisebegleiter.

Mein Blick schweift in die Runde. Ich stelle den Player ab.

Ein Kellner nähert sich beflissen durch die Flucht weiß bedeckter Tische.

Im Eingangsbereich des Restaurants prangt weißer Marmor, davor stehen Nachbildungen von griechischen Nackten. Sie sollen vielleicht Apoll darstellen oder Achill. Wer weiß das schon.

Umrankt werden sie von Efeu aus Plastik.

Der Teppich ist in einem dunklen Blau gehalten und überall zwischen weißem Marmor prangen goldfarbene Mäander. Der Kellner geleitet uns an einen Tisch.

Immer noch schweigend nehmen wir die Speisekarten entgegen und schlagen sie auf. Auch dort zieren nackte Männer die Seitenränder und freien Flächen.

Die Preise sind entsprechend: Marmor und Gold.

Diesmal halte ich den Mund und entschließe mich, keine weiteren Bemerkungen zu machen.

29. März – In den großen Hallen von Undo

Damals in den großen Hallen von Undo gab es keine Gnade für kleine Bücklinge, Meeräschen und Seebarben. Wenn es dem Herrscher genehm war, dann ließ er sie einfach auf den Grill werfen. Nur die großen Tiere mit den spitzen Zähnen hatten Chancen sich durchzusetzen.

Als der kleine George also von seinem Kabeljau-Schwarm ausgesucht wurde, die jährliche Beschwerde in den Hallen von Undo zu Gehör zu bringen, da riefen seine Kumpel ihm zu:
„Sei ein Hai, George, sei ein Hai!“

Natürlich erwarteten sie nicht wirklich, ihn jemals wiederzusehen. Schließlich hatten sie die Boten des Vorjahres, des Vorvorjahres und der ganzen Jahre zuvor, niemals wieder gesehen.

Eine Zeit lang hatten sie immer den größten und tapfersten Fisch des Schwarms ausgesandt, aber das brachte nichts. Und seitdem sogar Otto nicht zurückgekommen war, verlegten sie sich darauf, die kleinen und unnützen Drückeberger mit Knickflosse zu schicken. George gehörte auch zu dieser Sorte entbehrlicher Fische.

Dumm war er nicht, nur klein und mickerig. Deswegen zitterte er sehr, als ihn der Ruf ereilte.
Aber er hatte natürlich keine Chance, dieser Ehre zu entgehen. Also schwamm er zögernd los und die Rufe „Sei ein Hai, George, sei ein Hai!“ geleiteten ihn.

Es war fast Nacht, als er schließlich an den Hallen von Undo ankam. Ein paar Laternenfische leuchteten und rissen ihr riesiges Maul vor ihm auf, als wollten sie ihn verschlucken.
Aber dann erkannte er, dass das nur Attrappen waren, die ihm Angst einjagen sollten. Also schwamm er mit klopfendem Herzen weiter.

„Sei ein Hai, sei ein Hai“, flüsterte er vor sich hin.

Vor ihm gab es bereits eine lange Schlange von Bittstellern. Einer nach dem anderen wurde von Wächterfischen zum Herrscher geleitet. Zur Abschreckung hingen große Fotos von Grillfischen und Fischstäbchen an der Wand, auch einige gebratene Calamares waren darunter.

Da zitterte George noch mehr.

Er überlegte: „Warum mache ich das überhaupt? Unser Schwarm hat die fähigsten Fische geschickt, keiner kam zurück. Selbst wenn irgendeiner von den Fischen jemals die Beschwerden losgeworden war, so hatte sich deshalb doch nichts geändert. Warum also sollte gerade ich Glück haben mit seiner Beschwerdeliste.“

George seufzte und warf ein paar sehnsüchtige Blicke zum Ausgang.

Sein Problem war, dass er sich einfach nicht mehr bei seinen Leuten blicken lassen konnte, wenn er nichts erreicht hatte. Wieder rückte er einen Platz vor.

Ob er doch lieber wegschwimmen sollte? Lange Zeit haderte George mit sich, aber er wagte es nicht, den Rückzug anzutreten. Innerlich hatte er ohnehin mit seinem Leben abgeschlossen.

Kurz bevor er vor den Herrscher geführt wurde, sah er Bild von Haisteaks und Schillerlocken. Da wurde ihm klar, dass auch ein Hai keine Chance hatte, hier unbeschadet herauszukommen.

Völlig aufgelöst und zitternd wurde er schließlich zum Herrscher geführt. Der warf nur einen kurzen Blick auf den kleinen George.

„Der jährliche Heringsbeschwerdebesuch?“, fragte er gelangweilt. George war wie erstarrt, schließlich nickte er.

„Okay, du kannst dich da zu deinen Kumpels gesellen.“

Mit einer knappen Bewegung wies er auf einen kleinen Schwarm Heringe in einem Raum voller Spielzeug, Fontänen und leckerstem Fischfutter. Da war Otto, da war Simon, da waren sie alle. George gingen die Augen über.

„Was, was?“, stammelte er.

Ein Wächter schob ihn zur Seite.

„Der Nächste!“

28. März – Die Elster

Am Frühlingshimmel zog ein Roter Milan seine Kreise und rief laut und durchdringend, um seinen noch weit entfernten Partner anzulocken. Der näherte sich langsam. Noch einmal rief der Milan. Da stieg plötzlich eine Elster auf.

Ganz einsam und allein flog sie von einem ausgedehnten Gesträuch auf, kreuzte einmal fast die Flugbahn des Milans, flog dann über ihn und stieß steil hinab, blieb dabei lautlos.
Irritiert wich der Milan aus, versuchte dann, seinen Flug weiter zu verfolgen. Aber die Elster ließ nicht locker.

Wieder flog sie über den Milan und stürzte hinab. Dabei streckte sie im Sturzflug den Schnabel weit nach vorn, erst kurz vor dem Raubvogel stoppte sie durch wildes Flügelschlagen ab.

Wieder wich der Milan aus, verärgert.

Unverdrossen rief er erneut nach seinem Begleiter, der sich langsam näherte.

Die Elster jedoch ließ nicht locker und stürzte sich wieder auf den größeren Vogel. Der gab schließlich auf und drehte ab.

Zog ganz fort nach Süden zum Waldrand hin.

Auch der zweite Milan folgte ihm.

Befriedigt ließ sich die Elster auf einem schwankenden Birkenast nieder.

Der Himmel war bis auf einige weit entfernte Kondensstreifen völlig blau und unbevölkert.
Mit lauten Rufen krähten die Rabenkrähen Beifall.

Dann war es still.

27. März – Wie eine Gazelle

Wie eine Gazelle springt unsere Vorstellung leichtfüßig durch die weite Prärie unserer Erwartungen und Wünsche, voller Ungeduld können wir kaum erwarten, dass unsere Hoffnungen sich erfüllen.

Zäh und langsam wie eine Schnecke kriecht die mühsame Erfüllung voran – wenn wir sie jemals erreichen.

Und dann sagen wir: „Ach, wie ging das alles so schnell vorbei.“

Jetzt ist schon Abend, der Tanz ist vorbei und der Abschied winkt.

Ob wir wollen oder nicht, ob wir glücklich waren oder nicht.

So geht doch alles seinem Ende zu.

Wer spräche da noch von Ungeduld.

26. März – Geisterstunde

Es ist fast Mitternacht, die Geisterstunde beginnt gleich. Erol steht auf seinem Balkon in der Dunkelheit. Hier draußen am Waldrand gibt es keine Straßenlaternen. Die Nacht wird einzig und allein durch die Beleuchtung in Erols Haus oder den Mond und die Sterne erhellt.
Erol ist immer wieder erstaunt, wie deutlich er in der Nacht sehen kann, wenn kein künstlicher Lichtquell ihn stört und blendet.

Sogar in der schwärzesten Nacht lassen sich noch schwarze Schatten von tiefschwarzen Schatten unterscheiden. Und in sternklaren Nächten oder gar in Vollmondnächten hat er keinerlei Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden.

Erol liebt diese Stille der Nacht, die gar keine ist.

Überall sind Geräusche zu vernehmen, ein leises Knacken, ein Rauschen, ein Flügelschlagen.

Manchmal hat er wirklich Angst, dann erwartet er, dass in jedem Moment etwas unsagbar Schreckliches aus dem Wald bricht oder aus dem dunklen Himmel auf ihn herabstürzt.
In anderen Nächten fühlt er sich aufgehoben unter dem Sternenzelt und alles Böse und Angstmachende ist mindestens soweit fort, wie das kalte Funkeln der Sterne am Himmel.
Und die Welt umfließt ihn in Grau- und Schwarztönen.

Dann weiß er, dass alles, die angstmachenden Geister und die tiefe Erhabenheit allein in ihm ruhen und nur darauf warten geweckt zu werden.
Jedes zu seiner Zeit.

25. März – Die Amsel und die Schnecke

Es war einmal eine kleine Schnecke, die hatte ein wunderschönes Haus, das war gelb und braun und weiß. Die Schnecke war fürchterlich stolz auf die tollen Farben und das schimmernde Perlmuttweiß ihres Hauses. Und sie zeigte sich gerne damit. Eines Tages aber kam eine Amsel vorbei, die hatte großen Hunger.

Als sie das Haus der Schnecke sah, da war sie froh, dass es ihr so leuchtend in die Augen sprang. Sofort lief der Amsel das Wasser im Schnabel zusammen, als sie an die leckere Schneckenmahlzeit dachte. Und schon pickte sie los.

Aber das brüllte die Schnecke ganz laut:

„Hör auf, hör auf, mein schönes Haus!“

Da hielt die Amsel inne und fragte verblüfft: „Warum schreist Du denn nicht um Dein Leben, sondern nur um Dein Haus?“

Da guckte die Schnecke vorsichtig aus den Windungen ihres Schneckenhauses hervor.
„Es ist doch so wunderschön und einzigartig, das darfst Du nicht zerstören. Ich komme lieber heraus, dann musst Du mein schönes Haus nicht kaputt machen.“

Und die Schnecke wagte sich noch weiter hervor. Die Amsel machte einen Schritt zurück und legte den Kopf schief. Eine ganze Weile beobachtete sie auf diese Weise die Schnecke.
Ein paar Mal zuckte sie kurz mit dem Flügel und schnellte auch einmal kurz mit dem Kopf vor.

Aber dann sagte sie: „Ich habe Achtung vor Dir, meine liebe Schnecke! Mögest Du lange leben und Dein Haus immer schön und einzigartig bleiben.“

Die Schnecke wackelte überrascht mit ihren Tentakeln.

Bevor sie etwas sagen konnte, war die Amsel bereits davongeflogen.

24. März – Im Rhythmus

Badabumm, badabumm, badabumm. Immer wieder hämmert es hinter der dünnen Wand des Apartments im Rhythmus, mindestens 120 Schläge die Minute. Darüber liegt ein mal laut plärrender, mal dumpf wimmernder Singsang. Das geht so seit Stunden. Und es war bereits nach drei Minuten unerträglich.

Stefan hält sich die Ohren zu.

Das Klopfen an der Wand hat er bereits aufgegeben.

Das Klingeln beim Nachbarn ebenfalls. Beides hatte er völlig vergeblich versucht. Immer weiter hämmerte der Beat. Unaufhörlich, unerträglich.

Also gut, also doch. Es bleibt Stefan nichts anderes übrig. Er wählt die Nummer der Polizei.
Über den Lärm hinweg schreit er in den Hörer, hält sich das andere Ohr zu, um überhaupt etwas zu verstehen.

„Nachbar…“, sagt er „Lärmbelästigung…, drehe gleich durch…, meine Adresse…. Bitte schnell.“

Eine freundliche Stimme bittet ihn um etwas Geduld, aber die Kollegen würden bald da sein.

Also wartet Stefan am Fenster.

Schaut die Straße rauf und runter.

Schließlich fährt ein Streifenwagen vor.

Zwei Polizisten steigen aus, suchen auf dem Klingelschild. Durch den lauten Beat hört Stefan die Klingel kaum. Er drückt auf den Summer, um die Haustür zu öffnen.

Plötzlich Stille. Nebenan ist alles ruhig.

Die Stille ist ein Schock.

Der Beat hallt noch in Stefans Kopf nach, tropft immer noch durch seine Gehörgänge ins Gehirn.

Nur widerstrebend begreift er, dass der Lärm wirklich aufgehört hat.

Die beiden Polizisten stapfen die Treppe hoch.

„Sind Sie der Nachbar?“

Stefan nickt. Ihm ist es ein bisschen peinlich.

„Jetzt hat der Lärm aufgehört.“

„Keine Angst“, sagt einer der Polizisten, „wir konnten das Gewummere sogar vor der Haustür hören. Welche Tür ist es denn?“

Stefan deutet stumm auf die Wohnungstür zu seiner Rechten. Der Polizist klingelt.
Kurze Zeit später wird die Tür geöffnet. Der Nachbar steht mit der Zahnbürste im Mund da.

„Was’n los?“

Die Polizeibeamten fangen an: Lärmbelästigung, nächtliche Ruhestörung, Anzeige.

Oh Mann“, wendet sich der Nachbar an Stefan, „tut mir echt leid, da ist mir wohl die Kopfhörerklinke aus dem Verstärker gerutscht. Ich kann nur bei Musik schlafen.“

Er zuckt entschuldigend mit den Achseln.

23. März – Männer können nichts dafür

Männer können nichts dafür, oder? 92 % der Gefängnisinsassen sind männlichen Geschlechts. Nur etwa 8 % weiblich. Woran liegt das?

Es gibt da ganz ernsthafte Theorien. Eine lautet: Frauen sind genauso kriminell und gewalttätig wie Männer. Aber sie werden von den meistens männlichen Richtern geschont, weil sie zuviel Respekt vor Frauen haben.

Lustige Idee, allerdings kommt es mir so vor, dass Frauen viel härter verurteilt und auch in der Öffentlichkeit beurteilt werden, wenn sie zu Mörderinnen, Räuberinnen oder Erpresserinnen werden. Gerade weil es eher selten vorkommt und nicht mit dem landläufigen sanftmütigen Image der Frau übereinstimmt.

Eine andere Theorie lautet: Frauen leben ohnehin unter einengenderen Verhältnissen und haben deshalb weniger Gelegenheit Straftaten zu begehen. Sobald sie die gleichen Rechte bekommen wie Männer, wird sich auch irgendwann die Zahl der Straftaten angleichen. Dies sei bei jungen Straftätern bereits zu beobachten.

Eine weitere, allerdings nicht ganz ernstgemeinte Theorie lautet: Frauen sind einfach zu schlau. Sie lassen sich einfach nicht erwischen.

Eine weitere Theorie lautet: Frauen sind von Natur aus sanftmütigere und verantwortungsvollere und damit auch weniger gewalttätige und viel gesetzestreuere Wesen. Dies liegt daran, dass sie weniger Testosteron ausschütten.

Eine weitere Theorie lautet: Frauen sind seit mindestens 2000 Jahre als sanftmütige und verantwortungsvolle Wesen sozialisiert und verhalten sich entsprechend dem von der Gesellschaft anerkannten Frauenbild.

Das von der Gesellschaft anerkannte Männerbild ist dann also so: Männer dürfen gewalttätig sein, andere Wesen und vor allem Frauen und Kinder als ihren Besitz und jederzeit verfügbar ansehen. Sie dürfen das sogar mit anderen Männern, wenn sie nur mächtig genug sind. Sind sie nicht mächtig genug, dann ist es ihre Pflicht, sich auf irgendeine Weise dennoch Macht zu verschaffen. Vorzugsweise durch Gewaltakte gegen Schwächere.

Wenn sie dann erwischt und zur Verantwortung gezogen werden sollen, dann wird flugs die schlimme Kindheit verantwortlich gemacht. Und so wird die Verantwortung für missratene Männer wieder ganz geschickt auf die Mütter übertragen.

Am Ende sind doch die Frauen Schuld daran, dass 92 % der Gefängnisinsassen männlichen Geschlechts sind. Hätten sie mal die dummen Kerls besser erzogen.

Die Männer sind natürlich überhaupt nicht verantwortlich und können leider gar nichts daran ändern, dass sie nun einmal so sind, wie sie sind. So what.

22. März – Wasser findet seinen Weg

Wasser findet seinen Weg. ropf, tropf. In regelmäßigen Abständen tropft Wasser von der Decke und platscht in eine immer größer werdende Pfütze am Boden. Der Teppich, der in der Mitte des Wohnzimmers liegt, hat sich bereits mit Wasser vollgesogen.

Nun verteilt sich das Wasser auf dem Laminat, breitet sich langsam immer weiter aus. Irgendwann wird es in die Ecken dringen. Irgendwann wird es über die Türschwelle plätschern. Irgendwann wird es sich einen Weg nach unten suchen, in die nächste Etage.

Tropf, tropf. Wasser findet immer seinen Weg

21. März – Der wacklige Stuhl

„Wie gut, dass ich kein alter Latschen bin auf dem der Hund herumkauen darf“, dachte der wacklige Stuhl, der in der Ecke stand.

Seit langen Jahren schon wollte keiner mehr auf ihm sitzen. Nur Kleidung wurde über ihn geworfen. Ab und zu ächzte der Stuhl, wenn ein besonders schwerer Mantel auf ihm landete.

Aber meistens fühlte er sich ganz wohl. In seiner Ecke hatte er alles gut im Blick. Er sah die alte Dame aus dem Garten kommen, die schmutzigen Gartenschuhe zog sie immer schon an der Tür aus und stellte sie auf einen alten Putzlumpen. Dann schlüpfte sie in ihre Hausschuhe, zog die Gartenschürze aus und legte sie über die Lehne des Stuhls.

Wenn sie eine Jacke trug, legte sie auch diese dort ab. Meistens war es eine dicke Strickjacke, die vor langer Zeit einmal rosa gewesen war. Irgendwie war ihr in all den Jahren die Farbe abhandengekommen. Nur wenn es besonders kalt und regnerisch war, trug die alte Dame einen dicken, schweren Mantel, der den Stuhl zum Ächzen brachte.

Vor allem deswegen liebte der Stuhl den Frühling und den Sommer. Die alte Dame kam auch viel häufiger bei ihm vorbei in diesen Jahreszeiten.

Sonst stand er manchmal lange Zeit allein da.

Das war hart, besonders wenn der schwere Mantel auf ihm lastete.

Aber sogar dann war er lieber noch ein alter Stuhl, auf dem keiner mehr sitzen wollte. Nicht ganz nutzlos und deshalb noch gelitten, obwohl seine geflochtene Sitzfläche längst durchgebrochen war.

Immerhin wurde er noch nicht zerfleddert und zerkaut. Immerhin.