11. März – Georg

Georg schließt die Wohnungstür auf. Energisch scharrt er mit den Fußsohlen über die Fußmatte, bevor er in den Flur tritt. Es ist sehr still. Er hört nur das Plätschern des Wasserfilters im Aquarium, in dem nur zwei einsame Fische in einem Wald von Wasserpflanzen schwimmen.

Georg stellt seine Tasche an der Garderobe ab, zieht die Schuhe aus und schlüpft in bequeme Pantoffeln.

In der Küche steht noch die gespülte Kaffeetasse von heute Morgen auf dem Abtropfbrett. Eine Fliege sitzt auf der Gardinenstange am Fenster und hat aufgegeben mit dem Kopf durch die Scheibe zu kommen.

Aus dem Kühlschrank holt Georg eine Portion Fertigessen. Er reißt die Kartonage ab, sticht ein paar Mal mit einem scharfen Messer in die Deckelfolie und stellt die Schale in die Mikrowelle.

Dreieinhalb Minuten.

Besteck aus der Schublade nehmen, Teller aus dem Schrank holen.

Georg richtet seinen Teller auf dem Platzdeckchen sorgfältig aus. Die Rose muss nach oben zeigen. Dann Messer und Gabel, ein Bierglas, Serviette. Die Mikrowelle brummt immer noch.

Georg geht zum Fenster.

Die Fliege fliegt wild durch den Raum, surrt dabei unangenehm laut, schlägt ein paar Mal gegen die Scheibe. Dann wieder Stille. Vor dem Fenster liegt die Straße ruhig da. Kein Nachbar zu sehen, auch keine Katzen heute, keine Elstern, keine Rabenkrähen. Der Himmel ist blau mit ein paar Schleierwolken.

Die Mikrowelle schaltet sich ab und piept.

Mit Topflappen holt Georg die Schale heraus, zieht die Deckelfolie ab und richtet Kasseler, Kartoffelpüree und Sauerkraut auf seinem Teller an. Dann holt er eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, öffnet sie, gießt sich ein. Den Kronkorken wirft er gleich fort, ebenso die Plastikschale. Dann setzt er sich.

Die Uhr springt um. 17.30 Uhr.

Georg greift zu Messer und Gabel. Bedächtig schneidet er den Kasseler Braten in kleine quadratische Stücke.

Dann spießt er ein Quadrat auf, führt die Gabel zum Mund und hält inne.

Seine Hand sinkt kraftlos auf den Tischrand.

Das Muster auf der Tapete verschwimmt vor seinen Augen, eine Träne findet ihren Weg am Nasenflügel entlang zu seinem Mundwinkel. Dann blinzelt er, wischt die Tränen mit der Serviette weg, strafft die Schultern und beginnt systematisch zu essen.

Die Uhr tickt.

10. März – Die Eidechse

Eine kleine, grünbraune Eidechse kriecht aus einem Haufen welker Blätter auf ihren grünen, luftigen Sonnenplatz. Oh, wie wohl das tut die kalte Starre der Nacht abzuschütteln.

Da gibt es plötzlich ein merkwürdiges Geräusch. Seltsame Erschütterungen spürt das Reptil, spannt sich an und lauert. Noch ist die Wärme der Sonnenstrahlen viel zu verlockend und wohltuend. Dann aber sieht es etwas Merkwürdiges auf sich zukommen, es ist groß und schwarz und spiegelnd.

Es klickt auch immer so merkwürdig.

Immer näher kommt dieses große spiegelnde Ding.

Die Eidechse tritt den Rückzug an. Langsam schlängelt sie sich davon, klettert über welke Blätter, verschwindet unter einer Grasnarbe, passiert dabei Sonnenstrahl um Sonnenstrahl, um schließlich im Dunkel des Dickichts zu verschwinden.

Aber kurz darauf ist die Luft wieder rein. Das komische Ding ist fort.

Ach, wie wohl die Sonnenwärme tut nach einem solchen Schreck!

9. März – Lektion im Geistwandeln

Geistwandeln kann jeder Mensch, wenn er es will. Das ist der wichtigste Teil der Lektion: Akzeptieren, dass es völlig normal ist.

Geistwandeln ist nur ein möglicher Begriff. Andere nennen es auch Klarträume oder Levitation. Sicherlich gibt es noch viele Worte für das, was jeder Mensch in seinen Träumen erlebt und schnellstens wieder vergisst.

Weil sich die Welt verschiebt, weil die Linie zwischen Wachheit und Traum, zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen normal und völlig unmöglich verschwimmt.

Wir hangeln uns an dieser Linie entlang wie an einem Halteseil auf unwegsamer Strecke. Vielleicht könnten wir gefahrlos nach links nach rechts nach oben nach unten wechseln, aber wir wagen es nicht, weil die Gewohnheit unsere Sinne vernebelt.

Träumst du jetzt? Diese Frage stelle dir täglich mindestens zehn Mal. Stelle sie dir in allen möglichen Situationen. Das ist der zweite Teil der Lektion: Übung.

Übe zu zweifeln, das wird dir helfen, auch im Schlaf, im Traum zu zweifeln. Lerne dann, deine Träume zu beeinflussen. Manchen Menschen fällt das leicht, anderen schwer. Übe es unablässig, jede Nacht träumst du.

Erkenne deine Träume und reise in ihnen, bestimme selbst den Weg, den Ort, die Handlung. Das ist der dritte Teil der Lektion.

Erst wenn du ihn beherrschst, dann beginne mit dem vierten Teil der Lektion. Frage dich am Tage: Bin ich wach? Erkenne Deine Wachheit und reise in ihr, bestimme selbst deinen Weg, den Ort, die Handlung. Sei achtsam mit deinen Wünschen, denn sie erfüllen sich unaufhörlich. Sei Meisterin über dein eigenes Leben.

Das sei nicht möglich?

Ja, klar! Träum weiter, meine Liebe, und schlafe süß.

8. März – Ode an die Wut

Oh Wut! Oh herrliches Gefühl aufbrandend in den Adern, verleitest du mich, einen Augenblick alle Vorsicht fahren zu lassen, einfach auszusprechen, was endlich gesagt werden muss.

Oh köstliches Gefühl, machst mich wach und munter, schärfst meinen Blick und ölst meinen Verstand. Lässt mich blitzartig erkennen, was solange unter wimmernder Furcht verborgen lag.

Und nun, stehe ich da, stolz und frei.

Die Worte sind gefallen. Ich nehme nichts zurück.

Ich danke dir, du reine Energie. Kleine Schwester des Zorns, du Augenöffnerin, du Antreiberin in meinen müden Stunden.

Wohl sei dir, ich fürchte dich nicht!

7. März – Kaninchen sind arrogant

Es war einmal ein großer schwarz-brauner Hund. Der liebte nichts mehr als auf dem Feld den Kaninchen nachzujagen, verlassene Kaninchenbauten auszubuddeln oder wenigstens in Mausegänge seine Nase zu stecken und darin zu wühlen und zu schnüffeln. Natürlich wurde der Hund davon meistens ziemlich schmutzig. Aber seine Herrin störte das nicht weiter. Sie war der Ansicht, dass dies ein guter Zeitvertreib für einen Hund sei.

Eines Tages nun grub der Hund eifrig auf dem Feld. Ein Geruch war ihm in die Nase gekommen von einem leckeren, vielversprechend duftenden Kaninchen. Der Hund malte sich schon aus, wie er das Karnickel über die Wiesen und Felder jagte und es ihm wie sonst auch immer im letzten Augenblick Haken schlagend entkam. Also wühlte und buddelte er, bis er schließlich am Ende des Baus ankam.

Dort saß wirklich ein ganz kleines Kaninchen und zitterte. Dem war gar nicht nach Weglaufen zumute. Es hatte sich ganz in die Ecke gequetscht und starrte dem großen wühlenden Untier entgegen.

Der Hund war perplex. Ein Kaninchen und es rannte gar nicht fort. Was sollte er nun damit anfangen?

Also machte er einen Schritt zurück, plötzlich selbst furchtsam geworden und bellte das zitternde Bündel vorwurfsvoll an. Das drückte sich noch mehr in die Überreste des Baus.
Der Hund sprang aufgeregt um das Erdloch und bellte und bellte. Aber es nützte nichts, das Karnickel fing einfach nicht an zu rennen.

Schließlich ließ sich der Hund erschöpft auf seinen Hintern fallen und kratzte sich mit der Hinterpfote am Ohr. Das Kaninchen schnupperte vorsichtig mit der Nase, sonst rührte es sich nicht. Nachdem sich der Hund genug gekratzt hatte, stand er auf und stolzierte würdevoll nach Hause.

Er hatte keine Ahnung, warum das Kaninchen nicht mit ihm hatte spielen wollen.

6. März – Es tut mir nicht leid

Es tut mir nicht leid, geboren zu sein.

Es tut mir nicht leid, aufgewachsen zu sein.

Es tut mir nicht leid, ein großes Herz zu haben.

Es tut mir nicht leid, alles Leid meines Lebens erfahren zu haben.

Es tut mir nicht leid, alles Glück meines Lebens erfahren zu haben.

Es tut mir nicht leid, all die lauen Stunden meines Lebens erfahren zu haben.

Es tut mir nicht leid, Schmerz zugefügt zu haben.

Es tut mir nicht Leid, Freude bereitet zu haben.

Es tut mir nicht leid, gelernt zu haben.

Es tut mir nicht leid, vergessen zu haben.

Es tut mir nicht leid, Rache geübt zu haben.

Es tut mir nicht leid, Vergebung gewährt zu haben.

Es tut mir nicht leid, die zu sein, die ich bin.

5. März – Karl

Karl saß unschuldig im Knast. Er hatte längst aufgehört sich über die Umstände seiner Inhaftierung, die Schlamperei seines Anwaltes während des Prozesses und die Treulosigkeit seiner Familie aufzuregen.

Stattdessen hatte er nur wenige Wochen, nachdem er seine Zelle bezogen hatte, damit begonnen einen Tunnel in die Freiheit zu graben. Jeden Tag beim Hofgang hatte er den Schutt aus Löchern in seinen Taschen durch die Hosenbeine ausgeleert. Natürlich war das mühsam, aber er hatte Zeit. Und natürlich war das gefährlich, aber er glaubte, keine andere Wahl zu haben. Also buddelte er.

Inzwischen schon über 9 Jahre. Er hatte sich an das Leben im Gefängnis gewöhnt. Manchmal gefiel es ihm sogar. Jedenfalls einige seiner Mithäftlinge waren in Ordnung. Entgegen dem Klischee, behauptete hier keiner von sich, unschuldig zu sein. Die Gefangenen unterschieden sich vor allem darin, dass sie entweder bereuten oder prahlten.

Die mit ihren Taten prahlten, konnte Karl nicht leiden. Mit den Reuigen kam er besser klar. Ein paar davon waren seine Freunde geworden. Trotzdem konnte er es sich nicht erlauben, sie ins Vertrauen zu ziehen. Die Gefahr war einfach zu groß, entdeckt zu werden. Es war schwer genug, die Zellendurchsuchungen zu überstehen, dafür zu sorgen, niemals verlegt zu werden. Ganz davon abgesehen, dass ständig die Gefahr bestand, dass der Tunnel einstürzte. Aber wenn Karl eines war, dann hartnäckig.

Und eines Tages, war es endlich so weit. Nach Einschluss würde er endlich abhauen. Es fiel im sehr schwer, sich wie immer zu benehmen. Innerlich bebte und zitterte er. Es tat ihm leid, dass er niemandem Aufwiedersehen sagen konnte. Nein, er konnte es sich einfach nicht leisten, jetzt einen Fehler zu begehen.

Er arbeitete in der Gefängnisbibliothek und sortierte gerade die zurückgegebenen Bände ein. Routiniert schob er den Rollwagen voller Bücher durch die Regalschluchten, als plötzlich ein Schließer auf ihn zukam. Karl erschrak. Einen Augenblick vergaß er zu atmen. Dann erinnerte er sich daran: Locker bleiben. Also griff er nach dem nächsten Buch und stellte es an seinen Platz.

„Seifert, mitkommen!“, sagte der Schließer nur.

Und Karl ließ alles stehen und folgte ihm. So ein Elend, jetzt hatten sie den Tunnel doch entdeckt. Karl überlegte, ob es irgendeine Chance gab, sich doch noch herauszuwinden. Nein, keine. Diese Entdeckung bedeutete für ihn harte Strafen, Haftverschärfung und er würde niemals wieder Gelegenheit haben, einen Tunnel zu graben. Ein wichtiges Element seines Planes, war es schließlich sich stets gut zu führen, um niemals aufzufallen, niemals in Verdacht zu geraten. Irgendetwas hatte er wohl doch falsch gemacht.

Der Wachmann schloss Karls Zelle auf. Der Schlüssel klirrte laut, die Tür knarrte schwer.

„Los rein da,“ befahl der Schließer, als Karl zögerte. Also ging Karl voran in seine Zelle und stellte sich mit dem Rücken zum Fußende vor seine Pritsche.

„Packen Sie Ihre persönlich Habe zusammen. Sie werden entlassen.“

Karl sackte fast zusammen.

„Was?“

„Machen Sie schon!“

Der Ton war barsch. Karl wandte sich ab. Dann begann er seine Bücher einzusammeln, Briefe, ein paar Fotos und Postkarten. Ansichten von der Welt dort draußen. Seine Hände zitterten. Er hatte gar nichts, wo er die Sachen hineintun konnte. Schließlich wickelte er alles in seinen Sweater und band es mit den Ärmeln zu einem Bündel zusammen, das er sich unter den Arm klemmte.

„Kommen Sie!“, schnauzte der Wachmann.

Der klang immer wütender. Vielleicht gefiel es ihm nicht, jemanden frühzeitig zu entlassen. Ihn ließ schließlich auch keiner raus. Also folgte Karl dem Wachmann dicht auf den Fersen. Einen letzten Blick warf er noch zurück auf die Zelle. Dann trat er in den Gang. Die Tür schlug zu und wurde verschlossen. Der Wachmann führte Karl durch viele Türen und Schleusen ins Erdgeschoss in den Ausgangsbereich. Dort musste Karl kurz warten, dann wurde er von einer resoluten Dame aufgerufen.

Als er ins Büro trat, bat sie ihn, Platz zu nehmen. Sie war sehr höflich und ihre Stimme zwar fest und klar, aber nicht unangenehm.

„Hier sind Ihre Entlassungspapiere! Sie haben vermutlich Anspruch auf Haftentschädigung. Am besten suchen Sie sich einen Anwalt, der Sie in diesem Falle vertritt.“

Und so ging es noch fast eine halbe Stunde weiter. Karl fiel ein, dass die Bücher noch unsortiert auf dem Karren im Gang der Bibliothek standen. Dann war es endlich soweit.
Er hielt seine Papiere in der Hand, hatte seine persönlichen Sachen, seine Straßenkleidung wiederbekommen. Die Sachen schlotterten an seinem Körper. Aber das war ihm gleichgültig. Am schönsten war es, wieder gute Schuhe zu tragen. Er knöpfte sich den Mantel zu, als er vor die Tür trat. Es war kalt. Es roch nach Schnee. Er nahm einen tiefen Atemzug.

Dann ging er fort und blickte nicht mehr zurück.

4. März – Kendra

Als Kendra noch ein kleines Mädchen war, da war die Welt in Ordnung. Sie half ihren Müttern auf dem Feld oder ihren Onkeln im Stall. Und sie spielte mit ihren Geschwistern und Freunden.

Manchmal schlichen sie sich in den Wald, aber das sollten sie nicht, weil es dort für Kinder gefährlich war. Vor allem wenn sie sich nicht mit den Zaubern auskannten, um Wölfe und Bären zu bannen. Kendra lächelte, als ihr einfiel, dass es eine Zeit gegeben hatte, da sie diese Dinge noch nicht wusste und beherrschte. Lange war das her.

Inzwischen war sie die mam’ti, das Familienoberhaupt, wörtlich die Mutter des Hauses – im Langhaus. Das bedeutete viel Ehre aber auch viel Verantwortung. Ihre Aufgabe war es, für die ganze Familie zu sorgen, die Entscheidungen zum Wohle aller zu treffen. Natürlich berücksichtigte sie die Wünsche und Bedürfnisse der anderen und auch ihre eigenen.

Aber manchmal fragte sie sich, ob sie das Richtige tat. Kerwin, der Bruder ihrer Mutter, der Älteste im Haus seit langer Zeit, schien häufig unzufrieden mit ihr. Kendra wusste einfach nicht, wie sie mit ihm umgehen sollte. Sie wusste, dass es wichtig war, den Mutterbruder zu ehren. Er war natürlich der wichtigste unter den Männern im Haus.

Aber die letztendliche Entscheidung traf nun einmal sie, gleichgültig wie sehr Kerwin sie missbilligte. Er neigte dazu, es Kendra spüren zu lassen, dass er ihre Entscheidungen für falsch hielt. Und obwohl alles gut lief, so gab es doch eins, das er Kendra genüsslich unter die Nase reiben konnte: Die Tatsache, dass sie bisher nur Söhne geboren hatte. Wenn Kendra keiner Tochter das Leben schenken würde, dann wäre die lange Linie der hen’ti, des Hauses ihrer Vorfahren unterbrochen. Natürlich, sie war jung, sie konnte noch viele Töchter bekommen. Nur das Kind, das sie im Leibe trug, war wieder ein Junge. Kendra spürte das. Und sie fühlte, wie angreifbar es sie auf einer Ebene machte, die nur ihren persönlichen Stolz anging.

Denn in Wahrheit wäre die lange Linie der hen’ti nicht durchbrochen. Dann ginge eben die mam’ti-Würde auf die jüngste Tochter ihrer älteren Schwester über. In den meisten Häusern wurde das ohnehin nicht so dogmatisch geregelt. Die Fähigste unter den Töchtern wurde zum Oberhaupt der Familie. Und ja, wäre Kendra nicht fähig gewesen, dann hätte sie niemals die mam’ti werden können. Also, warum regte sie sich eigentlich auf?

Nur ihr Stolz war der Grund dafür. Sie wünschte sich so sehnlich eine Tochter. Aber vielleicht könnte sie ihren jüngsten noch ungeborenen Sohn tauschen mit einem Mädchen aus einem anderen Zweig der Familie.

Aber ihr Stolz ließ diesen Schritt nicht zu. Dann würde es für alle offenbar, dass sie unfähig war. Kendra holte tief Luft. Das war ihre Schwäche. Eindeutig. Ohne diese Schmach hätte Kerwin überhaupt keine Macht über sie. Ihr eigenes Unvermögen nagte an ihr. Und sie fragte sich langsam, warum sie, ausgerechnet sie dieses Schicksal zu tragen hatte.

3. März – In die Blaubeeren

Eines Morgens ging Rebecca in den Wald. Sie wollte dort Blaubeeren pflücken. Sie kannte eine Stelle, an der sie noch wild im Wald wuchsen.

Die Blaubeeren aus dem Wald schmeckten natürlich mindestens eine Million Mal besser als die aus dem Laden und noch viele Trillionen besser als die aus der Tiefkühltruhe. Sie hatte sich einen alten Henkeltopf mitgebracht, um die Blaubeeren sicher nach Hause zu transportieren.

Als sie so auf dem schattigen Waldweg entlang wanderte, schwenkte sie den Topf weit hin und her. Das erinnerte sie an ihre Kindheit.

Damals hätte irgendeine mahnende Stimme gesagt: „Nicht so doll, Rebecca, der Deckel fällt doch runter“. Und dann hätte sie natürlich aufgehört.

Aber heute gab es keine Stimme mehr, die sie mahnte und bevormundete. Höchstens bevormundete sie sich selbst. Doch gerade heute hatte Rebecca gar keine Lust dazu und schwenkte den Topf sogar hoch über ihren Kopf, einfach weil es Spaß machte.

Und der Deckel fiel nicht herunter.

2. März – Wenn ich einmal groß bin

„Wenn ich einmal groß bin, dann werde ich Hubschrauberpilot“, kräht Marcel und brummt mit seinem Spielzeughubschrauber durchs Wohnzimmer.

„Hmmhm“, sagt seine Mutter.

Sie bügelt gerade und schaut dabei eine langweilige Sendung im Fernsehen.

„Oder ich werde Krankenschwester wie Tante Jutta!“

„Klar, schön!“

Die Hemden nehmen heute kein Ende, da liegen mindestens noch fünf im Wäschekorb. Die Mutter seufzt.

„Oder ich werde Müllfahrer und habe auch so eine tolle orange Latzhose!“

Marcel hüpft vergnügt auf das Sofa und springt ein bisschen.

„Runter da, das geht kaputt.“

Also springt Marcel wieder auf den Boden und kriecht schnell unter den Tisch.

„Oder ich werde Höhlenforscher“, tönt er unter der Tischdecke hervor, die fast bis zum Boden hinabreicht.

„Pass auf die Vase auf!“, ruft die Mutter.

Aber es ist schon zu spät, Marcel hat zu stark am Tischtuch gezogen und die Vase ist umgefallen, das ganze Wasser ist mit einem Platsch über den Tisch geschwappt.

„Wenn Du groß bist, dann machst Du mir jedenfalls nicht mehr soviel Ärger!“

„Doch“, schreit Marcel aufgebracht, „wenn ich groß bin, dann mache ich Riesenvielärger!“

1. März – Oma

Meine Großmutter sah überhaupt nicht aus wie eine Oma aus der Fernsehwerbung. Meistens trug sie einen flotten Kurzhaarschnitt, auch als ihre Haare nicht nur grau, sondern schon schlohweiß waren. Meine Großmutter besaß auch nie einen Ohrensessel oder eine Stehlampe.

Aber das hatte wahrscheinlich damit zu tun, dass sie aus einer Familie stammte, die wir heute bildungsferner Haushalt nennen würden. Noch viel schlimmer. Sie war eines von sieben Kindern und wurde nach dem frühen Tod ihrer eigenen Mutter zu kinderlosen Bauern gegeben. Die ließen sie nicht zur Schule gehen, sondern arbeiten.

Das war Anfang des 20. Jahrhunderts in vielen Regionen Deutschlands anscheinend normal. Die Leute waren arm, Kinder waren zum Arbeiten da, zu schwerer körperlicher Arbeit. Fähigkeiten wie Rechnen, Lesen und Schreiben waren da gar nicht so wichtig.

Also arbeitete meine Großmutter schon als Siebenjährige auf dem Hof, lernte Schweine schlachten, kümmerte sich um den Haushalt, half auf dem Feld. Ein bisschen Lesen und Schreiben lernte sie in der Sonntagsschule. Trotzdem gab ihr später, als sie dreizehn oder vierzehn Jahre alt war eine Schneiderin eine Lehrstelle.

So schneiderte sie später uns Enkeln immer irgendwelche Kleider oder änderte Hosen und Röcke mit ihrer alten Pfaff-Nähmaschine. Ihre zweite Leidenschaft war der Garten, dort konnte sie alles zum Wachsen und Blühen und Früchtetragen bringen.

Sie wusste ungemein viel über Pflanzen und Bodenbeschaffenheit, über Schädlinge und deren Bekämpfung, über Kräuter und Gemüse. Und sie konnte für eine ganze Kompanie kochen. Das musste sie auch häufig zu ihren legendären Geburtstagsfeiern im Juli, zu denen alle aus der Familie kamen und noch ihre Freundinnen aus der Nachbarschaft. Meine Großmutter konnte uns alle versammeln.

Seit sie nicht mehr bei uns ist und niemand ihr Erbe angetreten hat, ist unsere große Familie in alle Winde verstreut. Keiner weiß mehr etwas von dem anderen.

28. Februar – Der Baum

Es war einmal ein großer Baum, der stand ganz allein auf einem Hügel. Um ihn herum gab es nur Wiese und Felsen. Der Baum war groß gewachsen.

Er hatte den Stürmen getrotzt. Seine Wurzeln hatte er tief in die Flanken des Hügels eingegraben. Er hatte sie um die Felsen geschlungen und so Anker geworfen wie ein mächtiges Schiff im Ozean.

Zwei Mal hatte der Blitz in ihn eingeschlagen. Das hatte seine Krone gespalten, aber er war dennoch weiter gewachsen. Und nur wenn man genau schaute, sah man die Narben seines Alters und seines langen Lebens.

So stand der Baum dort auf dem Hügel mächtig und auch ein bisschen einsam. Er konnte nur allein im Wind rauschen und dem Tröpfeln des Regens auf seinen Blättern lauschen. Kein anderer Baum lehnte sich an ihn oder wetteiferte mit ihm um den besten Platz an der Sonne. Nur manchmal flüsterten die Gräser dem alten Baum etwas zu.