6. April – Lustiger Abend

Lustiger Abend. Werner saß mit einem bunten Papphut auf dem Kopf vor dem Fernseher. Auf dem Wohnzimmertisch standen bereits zwei leere und eine angebrochene Bierflasche. Chips und Flips hatte Werner in eine zweigeteilte Holzschale gefüllt. Die leeren Tüten lagen unter dem Tisch.

Das Licht hatte Werner heruntergedimmt, der Raum wurde vor allem durch das bläuliche Licht des Fernsehgerätes erhellt. Es lief eine große Samstagabendshow. Ab und zu tönten ein paar Lacher aus dem Publikum, wenn der Moderator Faxen machte. Nur Werner verzog keine Miene.

Er nahm noch ein Schluck Bier. Mit dem Daumen fuhr er über das Flaschenetikett. Es glänzte merkwürdig im blauen Licht. Das war ihm noch nie aufgefallen.
Dann fiel sein Blick auf das Foto seiner verstorbenen Frau an der Wand. Sie schaute missbilligend auf ihn hinab.

Da prostete Werner ihr zu und grinste schief. Und seine Frau lächelte zurück.

5. April – Marie spricht ein Machtwort

Mit wirrem Haarschopf und laut gähnend tappte Marie in die Küche.

„Was macht Ihr denn so einen Lärm?“, fragte sie. Plötzlich war es still. Die Eltern schauten einander betreten an.

Die Mutter sagte: „Es ist alles in Ordnung.“

„Geh’ wieder ins Bett“, der Vater trat auf Marie zu und wollte sie aus der Küche bugsieren.
Aber Marie stand plötzlich hellwach und trotzig da.

Sie schaute von einem zum andern und dachte nicht daran, sich einfach wieder ins Bett abschieben zu lassen.

„Ihr streitet wieder“, stellte sie fest.

„Könnt Ihr Euch nicht mal endlich vertragen? Nie kann man Euch auch nur einen Moment aus den Augen lassen.“

Voller Entrüstung hatte Marie die Fäuste in die Hüften gestemmt.

Plötzlich begann die Mutter zu lachen, auch Marie prustete los.

Der Vater schaute einen Augenblick ratlos, dann stimmte er mit ein.
Das Lachen der drei dröhnte durchs ganze Haus.

4. April – Wer wird dir zuhören?

Wer wird dir zuhören? Torben war wirklich besorgt. Seit die Kirche diese elektrischen Beichtstühle eingeführt hatte, ging er gar nicht mehr gerne hin. Aber der virtuelle Pfarrer auf dem Bildschirm hatte ihm versichert, die Absolution gälte wirklich genauso wie früher.
Außerdem gab es ohnehin keine echten Pfarrer mehr auf dem Lande. Das lohnte sich nicht.

Wenn er eine richtige Messe besuchen wollte, dann musste er fast 120 Kilometer weit fahren. Aber wie sollte Torben das noch schaffen mit seinen Ersatzaugen und der Beinprothese. Es ging eben doch so langsam zu Ende mit ihm.

Torben machte sich große Sorgen um sein Seelenheil. Wie sollte er das erlangen, wenn er jede Woche nur einer Maschine von seinen Sünden erzählte, nachdem er seine Kollekte eingeworfen hatte. Anschließend segnete ihn ein Automat. Das war es dann. Zu Hause empfing ihn der automatische Haushälter.

Wenn er seine Freunde treffen wollte, dann trafen sie sich online. Es ging ja heute ohnehin kaum noch einer von den Alten aus dem Haus. Die störten doch nur.

Niemand sah gerne den Verfall, niemand wollte daran erinnert werden, dass ihn auch selbst irgendwann einmal der Tod ereilen würde.

Ja, natürlich. Die Lebenserwartung war hoch. Die Frauen wurden im Schnitt 117 Jahre alt, Männer immerhin 105. Torben hatte sie alle überlebt.

Er war jetzt 121 Jahre alt. Er erinnerte sich noch an richtige Kirchen aus Stein, mit Holzbänken, in denen man sitzen konnte. Und an echte Beichtstühle, wo ein Pfarrer auf der anderen Seite saß. Torben erinnerte sich auch noch an menschliche Ärzte und an Stewardessen im Flugzeug.

Und manchmal dachte er, dass die Welt ihm nicht nur deshalb schöner vorgekommen war, weil er damals jung war und alles noch vor ihm lag.

Er vermisste die anderen Menschen.

Er wäre beruhigter, wenn sich wenigstens ein Einziger von den Jungen für seine Geschichten aus der Vergangenheit interessieren würde.

Wenn ein Einziger sich die Zeit nähme, all die im langen Leben erworbene Weisheit zu würdigen.

Stattdessen erzählte er einem Automaten davon, der dann ständig blinkte und Fehlfunktionen anzeigte.

Immerhin war das ein Anlass, einmal in der Woche die Wohnung zu verlassen.
Immerhin hatte er sich bisher beharrlich geweigert, sich einfach in der Online-Church anzumelden.

Immerhin konnte er auf dem Weg zum elektrischen Beichtstuhl den Wind auf seiner Haut spüren, die Sonne sehen, den Regen fühlen, die Bäume betrachten, die Wolken beobachten.

Wenigstens etwas, das sich in all der Zeit überhaupt nicht verändert hatte.

3. April – Vater und Tochter

Du lebst doch hier im Schlaraffenland!“, brüllt der Vater seine Tochter Johanna an. „Wo das ganze Geld herkommt, interessiert dich doch gar nicht. Ich schufte mich krumm und buckelig und das ist dann der Dank!“

„Papa, sorry, aber ich hab’ dich nicht gebeten, dich für mich krumm und buckelig zu schaffen“.

„Was soll denn das jetzt – aber dein Taschengeld – dein fürstliches Taschengeld – das nimmst du gerne!“

„Ich wäre ja blöd, wenn nicht! Ich meine doch nur, dass es nicht immer nur aufs Geld ankommt.“

„Ach ja, auf was denn sonst?“

„Auf Liebe, auf Glück, auf Zusammenhalt, sowas eben.“

Der Vater schnaubt durch die Nase.

„So ein Mist“, murmelt er und schüttelt den Kopf. „Wer hat dir denn den romantischen Scheiß eingeredet. Wer glaubt denn an sowas? Da draußen herrscht Krieg!“

Nun schüttelt Johanna den Kopf. „Ach Papa!“

Wie soll sie ihm nur erklären, dass die Welt nur so ist, weil er sie so macht. Wie soll sie ihm nur erklären, dass Glaube Berge versetzt.

Das bedeutet leider auch, dass wirklich Krieg dort draußen herrscht, wenn er daran glaubt. Für ihn ist das so.

Wie soll sie ihn davon überzeugen, dass die Welt viel mehr ist als ein Ort der Pflichten und Kämpfe, des Verzichts und des Undanks.

„Vielleicht“, sagt sie, „wärst du einfach nur glücklicher, wenn du dich nicht für mich krumm und buckelig arbeiten würdest. Sondern das tun würdest, was du tun willst. Das meinte ich. Klar, vielleicht wäre ich dann unglücklicher. Also danke ich dir dafür, dass du aus Sorge um mein Glück auf deines verzichtest. Aber dein ewiges Gemecker macht mich auch unglücklich.“

2. April – Kaffee im Büro

Martin schaute verdrießlich in seinen Kaffee. Die Milch war schlecht und bildete lauter Flocken. Also schlurfte er zum Ausguss und schüttete den Kaffee fort. Dann kehrte er zur Kaffeemaschine zurück. Die Kanne war leer. Er hatte ja den Rest genommen. Also musste Martin neuen Kaffee kochen.

Er nahm die Glaskanne, füllte sie am Wasserhahn, schlurfte zurück zur Maschine, kippte das Wasser in den Behälter. Nur ein bisschen lief daneben und tröpfelte hinter dem Aktenschrank an der Wand herunter. Kaffeefilter waren vorhanden, sogar Kaffeepulver. Also füllte er ordentliche acht Kaffeelöffel in den Filter und noch einen für die Maschine.
Dann schaltete er das Ding an, es machte kurz „Swosch“. Das Licht ging aus, der Rechner fiel aus, nur der Lüfter des Computers drehte noch ein bisschen nach. Es war plötzlich erstaunlich still.

Martin konnte sogar einen Vogel vor seinem Bürofenster singen hören. Auf dem Flur fluchte jemand. Es rumpelte, dann fuhr der Computer wieder hoch, die Lampen leuchteten. Nur die Kaffeemaschine tat keinen Mucks.

Mit Mühe schob Martin den schweren Aktenschrank von der Wand. Dahinter war die Steckdose, der Stecker war an einer Seite schwarz verkohlt, auch die Rückseite des Aktenschrankes hatte etwas abbekommen.

Martin zog mit spitzen Finger den Stecker aus der Dose, nahm die Maschine und steckte sie in den Papierkorb. Die Tüte mit der sauren Milch warf er hinterher.
„Dann also doch in die Kantine“, murmelte er vor sich hin und verließ türenschlagend den Raum.

1. April – Das gute Ende

Als Gerda klein war, da hat sie immer von ihrer Oma gehört: „Mit dir wird es mal ein schlimmes Ende nehmen!“

Was genau dieses schlimme Ende sein sollte, das wusste Gerda nicht. Vielleicht änderte sich das Szenario des schlimmen Endes auch ständig. Aber in jedem Fall prophezeite die Oma fleißig und unablässig das schlimme Ende.

Als Gerda älter wurde, da bemühte sie sich redlich, dieses schlimme Ende zu finden. Sie probierte eine Menge aus. Sie stieg heimlich aus dem Fenster, rutschte die Regenrinne hinab und fuhr mit ein paar Freunden auf dem Moped in die Disko.

Natürlich schwindelte sie über ihr Alter, um eingelassen zu werden, und manchmal war sie auch ganz doll verliebt in einen der Jungen. Aber meistens war das der, der ausgerechnet von ihr nichts wissen wollte. Dann weinte Gerda und fragte sich, ob dies vielleicht das schlimme Ende sei. Aber nein.

Das Leben ging einfach weiter und die Mopeds wurden zu Motorrädern dann zu Autos. Irgendwann da empfahl ihr Lehrer, sie solle doch unbedingt weiter zur Schule gehen, sie sei doch so ein gescheites Mädchen.

Da drehte Gerdas Oma fast durch. Das schlimmste aller schlimmen Enden musste bevorstehen, wenn das Kind wider die göttliche Ordnung nicht in den Haushalt oder in die Landwirtschaft ging, sondern weiter zur Schule. Bildung war Teufelszeug und das hatte bisher noch jedem geschadet.

Als Beispiel führte die Oma immer ihren Bruder Theobald an, der immer seine Nase in die Bücher gesteckt habe und deshalb an der Schwindsucht gestorben sei. Gerda konnte zwar keinen Zusammenhang feststellen, wusste aber aus Erfahrung, dass ihrer Großmutter mit logischen Argumenten ohnehin nicht beizukommen war.

Schließlich erzählte sie der Oma, dass es in der modernen Landwirtschaft unabdingbar sei, einen guten Schulabschluss zu haben. Das leuchtete der Oma dann fast ein und sie reduzierte ihre Weissagung auf ein lediglich schlimmes Ende wie gewöhnlich.

Also durfte Gerda weiter die Schule besuchen. Sie machte als allererstes Mädchen in ihrem Dorf Abitur und anstatt danach endlich in die Landwirtschaft oder einen Haushalt zu gehen, wie es die Oma nun wirklich erwartet hatte, zog das Mädchen in die Stadt und besuchte eine Universität. Der Oma war das völlig unverständlich, das konnte ja nur mit einem frühen Tod enden, wenn ein Mädchen ständig die Nase in die Bücher steckte.

Aber es kam noch viel schlimmer. Gerda arbeitete hart und wurde tatsächlich dank Ihres Fleißes und der finanziellen Unterstützung durch ein Stipendium schließlich eine Ärztin der Medizin.

Sie arbeitete an einem Krankenhaus.
Und die Oma war sich sicher, dass dies nun aber ganz bestimmt zu einem schlimmen Ende führen musste.

Was dort alles für Keime herumschwirrten, diese kranken Menschen, das war doch gefährlich.

Aber Gerda schien das alles mit Links zu meistern. Sie lernte einen netten Mann kennen, bekam zwei Kinder, arbeitete weiter, ließ sich schließlich als praktische Ärztin nieder und führte ein angesehenes und glückliches Leben.

Nun lauerte Gerdas Oma darauf, dass vielleicht die Kinder missrieten oder die Ehe ihrer Enkelin scheitern würde.

Aber nichts, außer den üblichen Wehwehchen fehlte keinem etwas.

Ganz im Gegenteil, Gerda nahm schließlich die Oma zu sich, als sie nicht mehr allein leben konnte und sich nicht mehr allein zurechtfand.

Eines Nachmittags als die erste Frühlingssonne gerade so schön durch das große Fenster im Wohnzimmer hereinschien, da tastete die Oma nach Gerdas Hand und sagte:
„Ach, Du bist so ein gutes Mädchen, das habe ich ja schon immer gesagt. Ende gut alles gut!“

31. März – Antonio Fatalusi

„Guten Tag, mein Name ist Antonio Fatalusi“, sage ich und langweile mich unsäglich dabei. Den ganzen Tag kommt ein Call nach dem anderen rein und ich höre mir die immer gleichen Geschichten an.

„Wo bleibt mein Paket, ich brauche es dringend, es ist ein Geburtstagsgeschenk, mein neues Mobiltelefon, mein Receiver, meine Schuhe,…“ oder „Der Zusteller hat nicht geklingelt, ich war den ganzen Tag zu Hause und jetzt finde ich eine Benachrichtigungskarte im Briefkasten, dass ich die Sendung MORGEN in der Filiale abholen kann, ich brauche das Paket aber HEUTE.“

Und ich gebe die immer gleichen Antworten: „Das tut mir leid, ich nehme eine Laufzeitbeschwerde für Sie auf“ oder „Entschuldigen Sie bitte, so sollte der Zusteller nicht arbeiten, ich werde eine Beschwerde aufnehmen, die an dessen Vorgesetzten weitergeleitet wird.“

Dann diskutieren die Leute meistens mit mir und ich stelle sie mit den immer gleichen Phrasen zufrieden oder auch nicht. Die Hauptsache ist, sie legen schnell wieder auf, denn unsere Durchschnittszeit soll nicht länger als zwei Minuten zwanzig Sekunden dauern. Mehr als sechs Wochen mache ich nun diesen Job und wenn ich mich nicht gerade unsäglich gelangweilt fühle, amüsiere ich mich über die Ironie meiner Lage.

Hier in diesem Call Center ist alles auf ‚Geheimdienst‘ getrimmt. Die Mitarbeiter am Telefon heißen Call Agent. Da ich erst sechs Wochen dabei bin, bin ich ein Junior Agent, meine direkten Vorgesetzten sind die Senior Agents. Es gibt einen Helpdesk und ein Back Office und Special Agents für Premiumkunden.

Lustigerweise bin ich wirklich Geheimpolizist und mein Vorgesetzter, der einfach nur ‚Chef‘ heißt bei uns, hat mir diesen Undercover-Einsatz verschafft, nun ich sollte wohl lieber sagen, aufs Auge gedrückt. Angeblich würden hier in diesem Call Center Aufträge des organisierten Verbrechens telefonisch weitervermittelt, natürlich in einer kodierten Sprache. Aber ich glaube langsam, dass uns da irgendjemand einen Bären aufgebunden hat und die Leute tatsächlich nur wegen langweiliger Pakete anrufen und damit nicht irgendwelche ‚Pakete‘ gemeint sind, also eine Fuhre Drogen, Waffen, Zwangsprostituierte oder Geld aus solch kriminellen Geschäften für die große Wäsche. Und falls es doch solche Anrufe gibt, dann landen die jedenfalls nicht bei mir.

Mein Chef sagt mir: „Hab‘ Geduld Antonio, stell dich vernünftig an, mach‘ dich unentbehrlich, überzeuge sie davon, dass man dir vertrauen kann, finde heraus, wie diese ganze Sache läuft und ich vergesse, wie dumm du dich bei deinem letzten Einsatz angestellt hast.“

Nun ja, das ist der Haken, mein letzter Einsatz. Den habe ich total versemmelt. Ziemlich peinliche Angelegenheit, an die ich mich ungern erinnere.

30. März – Faux Pas

Faux Pas. „Sieht ja aus wie in nem Schwulenladen hier!“, sage ich.

Einen Moment später höre ich sogar durch den plärrenden Lärm der Musik aus meinen Kopfhörern das betretene Schweigen meiner Reisebegleiter.

Mein Blick schweift in die Runde. Ich stelle den Player ab.

Ein Kellner nähert sich beflissen durch die Flucht weiß bedeckter Tische.

Im Eingangsbereich des Restaurants prangt weißer Marmor, davor stehen Nachbildungen von griechischen Nackten. Sie sollen vielleicht Apoll darstellen oder Achill. Wer weiß das schon.

Umrankt werden sie von Efeu aus Plastik.

Der Teppich ist in einem dunklen Blau gehalten und überall zwischen weißem Marmor prangen goldfarbene Mäander. Der Kellner geleitet uns an einen Tisch.

Immer noch schweigend nehmen wir die Speisekarten entgegen und schlagen sie auf. Auch dort zieren nackte Männer die Seitenränder und freien Flächen.

Die Preise sind entsprechend: Marmor und Gold.

Diesmal halte ich den Mund und entschließe mich, keine weiteren Bemerkungen zu machen.

29. März – In den großen Hallen von Undo

Damals in den großen Hallen von Undo gab es keine Gnade für kleine Bücklinge, Meeräschen und Seebarben. Wenn es dem Herrscher genehm war, dann ließ er sie einfach auf den Grill werfen. Nur die großen Tiere mit den spitzen Zähnen hatten Chancen sich durchzusetzen.

Als der kleine George also von seinem Kabeljau-Schwarm ausgesucht wurde, die jährliche Beschwerde in den Hallen von Undo zu Gehör zu bringen, da riefen seine Kumpel ihm zu:
„Sei ein Hai, George, sei ein Hai!“

Natürlich erwarteten sie nicht wirklich, ihn jemals wiederzusehen. Schließlich hatten sie die Boten des Vorjahres, des Vorvorjahres und der ganzen Jahre zuvor, niemals wieder gesehen.

Eine Zeit lang hatten sie immer den größten und tapfersten Fisch des Schwarms ausgesandt, aber das brachte nichts. Und seitdem sogar Otto nicht zurückgekommen war, verlegten sie sich darauf, die kleinen und unnützen Drückeberger mit Knickflosse zu schicken. George gehörte auch zu dieser Sorte entbehrlicher Fische.

Dumm war er nicht, nur klein und mickerig. Deswegen zitterte er sehr, als ihn der Ruf ereilte.
Aber er hatte natürlich keine Chance, dieser Ehre zu entgehen. Also schwamm er zögernd los und die Rufe „Sei ein Hai, George, sei ein Hai!“ geleiteten ihn.

Es war fast Nacht, als er schließlich an den Hallen von Undo ankam. Ein paar Laternenfische leuchteten und rissen ihr riesiges Maul vor ihm auf, als wollten sie ihn verschlucken.
Aber dann erkannte er, dass das nur Attrappen waren, die ihm Angst einjagen sollten. Also schwamm er mit klopfendem Herzen weiter.

„Sei ein Hai, sei ein Hai“, flüsterte er vor sich hin.

Vor ihm gab es bereits eine lange Schlange von Bittstellern. Einer nach dem anderen wurde von Wächterfischen zum Herrscher geleitet. Zur Abschreckung hingen große Fotos von Grillfischen und Fischstäbchen an der Wand, auch einige gebratene Calamares waren darunter.

Da zitterte George noch mehr.

Er überlegte: „Warum mache ich das überhaupt? Unser Schwarm hat die fähigsten Fische geschickt, keiner kam zurück. Selbst wenn irgendeiner von den Fischen jemals die Beschwerden losgeworden war, so hatte sich deshalb doch nichts geändert. Warum also sollte gerade ich Glück haben mit seiner Beschwerdeliste.“

George seufzte und warf ein paar sehnsüchtige Blicke zum Ausgang.

Sein Problem war, dass er sich einfach nicht mehr bei seinen Leuten blicken lassen konnte, wenn er nichts erreicht hatte. Wieder rückte er einen Platz vor.

Ob er doch lieber wegschwimmen sollte? Lange Zeit haderte George mit sich, aber er wagte es nicht, den Rückzug anzutreten. Innerlich hatte er ohnehin mit seinem Leben abgeschlossen.

Kurz bevor er vor den Herrscher geführt wurde, sah er Bild von Haisteaks und Schillerlocken. Da wurde ihm klar, dass auch ein Hai keine Chance hatte, hier unbeschadet herauszukommen.

Völlig aufgelöst und zitternd wurde er schließlich zum Herrscher geführt. Der warf nur einen kurzen Blick auf den kleinen George.

„Der jährliche Heringsbeschwerdebesuch?“, fragte er gelangweilt. George war wie erstarrt, schließlich nickte er.

„Okay, du kannst dich da zu deinen Kumpels gesellen.“

Mit einer knappen Bewegung wies er auf einen kleinen Schwarm Heringe in einem Raum voller Spielzeug, Fontänen und leckerstem Fischfutter. Da war Otto, da war Simon, da waren sie alle. George gingen die Augen über.

„Was, was?“, stammelte er.

Ein Wächter schob ihn zur Seite.

„Der Nächste!“

28. März – Die Elster

Am Frühlingshimmel zog ein Roter Milan seine Kreise und rief laut und durchdringend, um seinen noch weit entfernten Partner anzulocken. Der näherte sich langsam. Noch einmal rief der Milan. Da stieg plötzlich eine Elster auf.

Ganz einsam und allein flog sie von einem ausgedehnten Gesträuch auf, kreuzte einmal fast die Flugbahn des Milans, flog dann über ihn und stieß steil hinab, blieb dabei lautlos.
Irritiert wich der Milan aus, versuchte dann, seinen Flug weiter zu verfolgen. Aber die Elster ließ nicht locker.

Wieder flog sie über den Milan und stürzte hinab. Dabei streckte sie im Sturzflug den Schnabel weit nach vorn, erst kurz vor dem Raubvogel stoppte sie durch wildes Flügelschlagen ab.

Wieder wich der Milan aus, verärgert.

Unverdrossen rief er erneut nach seinem Begleiter, der sich langsam näherte.

Die Elster jedoch ließ nicht locker und stürzte sich wieder auf den größeren Vogel. Der gab schließlich auf und drehte ab.

Zog ganz fort nach Süden zum Waldrand hin.

Auch der zweite Milan folgte ihm.

Befriedigt ließ sich die Elster auf einem schwankenden Birkenast nieder.

Der Himmel war bis auf einige weit entfernte Kondensstreifen völlig blau und unbevölkert.
Mit lauten Rufen krähten die Rabenkrähen Beifall.

Dann war es still.

27. März – Wie eine Gazelle

Wie eine Gazelle springt unsere Vorstellung leichtfüßig durch die weite Prärie unserer Erwartungen und Wünsche, voller Ungeduld können wir kaum erwarten, dass unsere Hoffnungen sich erfüllen.

Zäh und langsam wie eine Schnecke kriecht die mühsame Erfüllung voran – wenn wir sie jemals erreichen.

Und dann sagen wir: „Ach, wie ging das alles so schnell vorbei.“

Jetzt ist schon Abend, der Tanz ist vorbei und der Abschied winkt.

Ob wir wollen oder nicht, ob wir glücklich waren oder nicht.

So geht doch alles seinem Ende zu.

Wer spräche da noch von Ungeduld.

26. März – Geisterstunde

Es ist fast Mitternacht, die Geisterstunde beginnt gleich. Erol steht auf seinem Balkon in der Dunkelheit. Hier draußen am Waldrand gibt es keine Straßenlaternen. Die Nacht wird einzig und allein durch die Beleuchtung in Erols Haus oder den Mond und die Sterne erhellt.
Erol ist immer wieder erstaunt, wie deutlich er in der Nacht sehen kann, wenn kein künstlicher Lichtquell ihn stört und blendet.

Sogar in der schwärzesten Nacht lassen sich noch schwarze Schatten von tiefschwarzen Schatten unterscheiden. Und in sternklaren Nächten oder gar in Vollmondnächten hat er keinerlei Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden.

Erol liebt diese Stille der Nacht, die gar keine ist.

Überall sind Geräusche zu vernehmen, ein leises Knacken, ein Rauschen, ein Flügelschlagen.

Manchmal hat er wirklich Angst, dann erwartet er, dass in jedem Moment etwas unsagbar Schreckliches aus dem Wald bricht oder aus dem dunklen Himmel auf ihn herabstürzt.
In anderen Nächten fühlt er sich aufgehoben unter dem Sternenzelt und alles Böse und Angstmachende ist mindestens soweit fort, wie das kalte Funkeln der Sterne am Himmel.
Und die Welt umfließt ihn in Grau- und Schwarztönen.

Dann weiß er, dass alles, die angstmachenden Geister und die tiefe Erhabenheit allein in ihm ruhen und nur darauf warten geweckt zu werden.
Jedes zu seiner Zeit.